"Wir sind unserer natürlichen Umgebung entfremdet. Diese Entwurzelung ist, so glaube ich, einer der Hauptgründe, warum es uns heute so schwerfällt, die Schläge, die uns treffen, zu bewältigen. Wir haben die Perspektive verloren, die uns die Natur bietet", schreibt Charlie Corbett in der Einleitung zu Die Zwölf Seelen-Vögel. Als seine Mutter stirbt, findet er Trost beim Beobachten von Vögeln. Dabei stellt er unter anderem fest, dass die Lerche zu den wenigen Vögeln gehört, die im Flug singen.
Wir sehen selten, was vor unserer Nase liegt, gehen meist achtlos daran vorbei. "Ich bin immer noch verblüfft, wie viel Neues ich immer wieder bei Spaziergängen entdecke, obwohl ich jetzt seit Jahren schaue, suche und lerne." Das liegt daran, dass wir zumeist auf Autopilot unterwegs sind – de-automatize hat Osho uns geraten. Wie jeder wirklich gute Rat, so zeichnet sich auch dieser dadurch aus, dass er nicht so einfach umgesetzt werden kann.
Charlie Corbett macht die Erfahrung, dass nur schon still unter einem Baum zu sitzen, sich als überraschend schwierig erweist, denn es kann beängstigend sein, mit den eigenen Gedanken allein zu sein. "Ich wollte instinktiv vor diesen Augenblicken der Stille fliehen (oder mich aus ihnen wegsaufen), weil ich Angst davor hatte, was mir in ihnen begegnen würde, und deshalb scheiterten viele meiner Versuche, mich einfach hinzusetzen und dem Gras beim Wachsen zuzuschauen und zuzuhören, völlig."
So recht eigentlich handelt es sich bei Die Zwölf Seelen-Vögel um ein Heranführen an die Natur, von der wir ein Teil sind, auch wenn uns das selten wirklich bewusst ist, da wir gelernt haben in Gegensätzen zu denken. "Oben auf dem Hügel kam ich mir vor, als sei ich Teil von etwas Grösserem als meinem begrenzten Verstand und meiner kurzen Verweildauer auf Erden. Ich versuchte, mir intensiv die Menschen und Tiere vorzustellen, die vor mir diese alte Kulturlandschaft bevölkert hatten. Ich fragte mich, wie viele Tausende Menschen in den vergangenen Jahrhunderten dieses schöne Fleckchen Erde ihr Zuhause genannt hatten. Es mussten viele gewesen sein, und dennoch kam es einem so unberührt vor mit seinen endlosen Hügelketten und gewundenen Bächen mit kalkig weissem Wasser."
Bei seiner Entdeckungsreise stösst Charlie Corbett auch auf Edward Grey, den britischen Aussenminister zu Beginn des Ersten Weltkrieges, der sich als Vogelfreund herausstellte, und sich in einer Art und Weise über den Zaunkönig ausliess, dass Charlie das Gefühl hatte, auf eine verwandte Seele gestossen zu sein. Was wieder einmal zeigt, dass es zu allen Zeiten und in allen Berufen Menschen gab, die sich mit der Natur verbunden fühlten.
Auch der britische Witz kommt nicht zu kurz in diesem gut geschriebenen Werk. Etwa wenn man darauf hingewiesen wird, dass Paul McCartney offenbar kein Vogelkenner ist, sonst hätte er kaum eine Amsel (Blackbird) mitten in der Nacht singen lassen. Amseln tun das nämlich nicht, Singdrosseln tun das. Übrigens nicht nur mitten in der Nacht, "sondern auch mitten im Winter, wenn sich kein anderer Vogel hören lässt."
Die Zwölf Seelen-Vögel ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Sterben von Charlie Corbetts Mutter. Vor allem der Vater will nicht wahrhaben, dass das Leben seiner Frau zu Ende geht; ihr Tod lässt ihn als gebrochenen Mann zurück. "Trauer ist eine seltsame Sache. Das Wort selbst ist ein schwacher Versuch, eine Legion von Gefühlen zu beschreiben, die sich auf hunderterlei Art manifestieren, ähnlich wie Liebe wohl, aber negativ."
Was Die Zwölf Seelen-Vögel auszeichnet, sind die persönlichen Geschichten. So beobachtete der Autor etwa einen Buchfink, der mit seinem Spiegelbild kämpft, das er für einen Rivalen hält. Und auf ein Mal dämmert ihm, dass er selber genau so mit seinem Vater kämpft. "Manchmal zeigen einem die Tiere so deutlich, was mit dem eigenen Leben nicht stimmt, dass es wehtut."
Fazit: Nützlich und anregend.
Charlie Corbett
Die Zwölf Seelen-Vögel
Wie sie uns Trost, Ruhe und neue Kraft schenken
Kailash, München 2022
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen