Die Frau war sympathisch, offen und witzig. Wir befanden uns in einer Bar am Kata Karon Beach auf Phuket und unterhielten uns bestens. Als sie dann aber sagte, sie sei Psychologin, konnte ich nicht mehr an mich halten und übergoss sie mit meinem ganzen Widerwillen gegen diese diplomierten Experten für die Seele, von der ich glaubte, wesentlich mehr zu verstehen, weil ich doch so sehr am Leben litt und mir so viele Gedanken über dieses Leiden machte. Erst als Linda, so hiess die Frau aus dem australischen Melbourne, schliesslich lachend sagte: I’m only working part-time, liess ich von meinen Tiraden ab.
Psychologinnen (Männer sind mitgemeint), so meine damalige Sicht der Dinge, konterten jede Kritik mit: Was ist Dein Problem?; Du verdrängst da etwas; Mit Dir stimmt etwas nicht. Jedes Nicht-Einverstanden-Sein mit Irgendetwas wurde als persönliches Problem gesehen. Positiv formuliert: Eigenverantwortung wurde gefordert. Und so sehr ich diese auch befürworte, so sehr gingen mir diese Psychos auf die Nerven. Weil sie Recht hatten? Vielleicht auch, wahrscheinlicher scheint mir jedoch, weil ich sie als Systemerhalter begriff und ich selber voller Wut auf dieses System war. Mit System meinte ich damals die Schule, die für mich nur einen Zweck hatte: uns Schüler in die herrschende Ordnung einzugliedern. Ich empfand sie als Unterdrückungsapparat und war bass erstaunt, als mir einmal ein mir sympathischer Pfarrer erläuterte, dass sie für ihn genau das Gegenteil gewesen sei, nämlich die Möglichkeit, sich aus den beengten sozialen Verhältnissen seiner Herkunft zu befreien (meine eigene soziale Herkunft, mein Vater war ein angesehener Arzt, war privilegiert).
Für die meisten Psychologen gilt, was der Jurist Ludwig Thoma einmal über die Juristen gesagt hat: „Der königliche Landgerichtsrat Alois Eschenberger war ein guter Jurist und auch sonst von mässigem Verstande.“ Shakespeare sagt es so: „Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.“
Denke ich an meine Schulzeit, erinnere ich mich vor allem an Charaktereigenschaften meiner Lehrer. Und insbesondere an den zutiefst menschenfreundlichen Pater Giulio Haas und die unkonventionelle Christine Wunderli, die eine Lebensfreude ausstrahlte, die mir im Gymnasium – die Sensiblen litten! – zuwider war. Ich habe Dich damals gar nicht gemocht, erzählte ich ihr Jahre später. Ich weiss, ich Dich aber, lachte sie.
In jeder Schule gibt es gute Lehrer und auch unter den Psychologen gibt es welche, die wissen, wovon sie reden. Aus reflektierter Erfahrung, nicht wegen der Anpassung ans System, die mit einem Diplom belohnt wurde.
Nachdem ich sechs Jahre lang keinen Alkohol mehr getrunken hatte, begab ich mich nach Hazelden, der berühmten 12-Schritte-Therapie-Einrichtung in Minnesota, um zu sehen, ob die Ausbildung zum addiction counsellor etwas für mich wäre. Nachdem ich zehn Tage erlebt hatte, wie der Laden so lief (und mich wenig überzeugt hatte), fragte mich der Chef-Therapeut, was meine Motivation sei, um counsellor zu werden. Ich sei immer an existenziellen, philosophischen Fragen interessiert gewesen, darum ginge es mir, antwortete ich. Dann sei ich bei ihnen ganz falsch, erwiderte der Chef-Therapeut, bei ihnen gehe es darum, die Patienten wieder fit fürs Arbeitsleben und die Familie zu machen. Das war und ist in der Tat nicht, was mir vorschwebte, denn in meiner Vorstellung ist Sucht nicht einfach ein persönliches Problem. Das Nicht-Genug-Kriegen, das Immer-Mehr-Mehr-Mehr (und genau das ist Sucht) ist geradezu die Grundlage „unseres“ Systems.
Gibt es denn eine Alternative? Sicher, Eckhard Schiffer hat sie in Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde beschrieben. „Am Anfang aller Aufklärung stünden die Selbstaufklärung über die suchtartige Verschreibung an das Leistungsprinzip unter Eltern und Lehrern und Schulbürokraten sowie das Wissen darum, dass das Spielen im Sinne von ‚play‘ und die dazugehörigen Freiräume die wirksamste Immunisierung gegen Suchtgefährdung darstellen.“
Und was tut man, wenn man schon süchtig ist? Selber denken; lernen, bei sich zu sein; nach seinen eigenen Werten zu leben; Meister seiner selbst zu sein. Übung macht den Meister, hiess es einmal. Es gilt noch immer.
Was dem Selber-Denken im Wege steht, hat Immanuel Kant gemeint, seien Faulheit und Feigheit. Das war 1784; es gilt noch immer.
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