Ich verspreche mir von diesem Buch ein paar Gedanken und Einsichten, auf die ich selber wohl kaum gekommen wäre. Und ich komme auch durchaus auf meine Kosten, denn dieses Buch, so die Autorin, setzt sich auch „mit einer Gesellschaft auseinander, die uns im Falle einer Abhängigkeit dazu zwingt, männerdominierte Hilfsorganisationen wie die Anonymen Alkoholiker (AA) aufzusuchen, die den aufkeimenden feministischen und individualistischen Idealen nicht nur zuwiderlaufen, sondern aktiv dagegen vorgehen.“ Dass die Anonymen Alkoholiker (Männer und Frauen) gegen Ideale aktiv vorgehen, seien es feministische, individualistische und andere das Ego-fördernde, liegt daran, dass Ideale und Sucht/Abhängigkeit nicht nur nicht zusammengehen, sondern dass Ideale (also Wunschvorstellungen) für Sucht/Alkoholismus oft ursächlich sind.
Holly Whitaker sieht das entschieden anders, ihre kurze Zeit bei den AA erlebte sie als bedrückend. Sie habe kein Ego-Problem, wehrt sich ihr Ego. Von der Feministin und Meditationslehrerin Carol Lee Flinders lernt sie: „Die jahrtausendealte Tradition der Meditation, die in verschiedenen Religionen verankert ist, ist nicht genderneutral. Sie wurde vor allem in Klöstern praktiziert und zielt darauf ab, die Autonomie aufzugeben, die als männliches Privileg galt. Deshalb beschneidet sie unsere Freiheit, unsere Meinung zu äussern, eigene Weg zu gehen, Vergnügungen nachzugehen, vor allem, als Mensch bedeutsam zu sein.“
Zugegeben, so habe ich das noch nie gesehen, doch die Frauen, die ich bei AA-Meetings angetroffen habe, sahen dort nicht ihre Freiheit bedroht, sondern hatten erfahren, dass auf ihren eigenen Weg zu insistieren, der hauptsächliche Grund für ihren Alkoholismus war. „Wenn dir der Therapieansatz nicht gefällt, wähle einen anderen“, diese bei den AA häufig gebrauchte Formel befindet Holly Whitaker als zu einfach (!). Wie kommt sie zu dieser Auffassung? „Der von den Anonymen Alkoholikern entwickelte Ansatz ist seit über 100 Jahren beim Umgang mit Abhängigen erste Wahl“, schreibt sie, dabei hat sie ein paar Seiten zuvor das Gründungsdatum der AA mit dem 10. Juni 1935 angegeben, das wären dann doch etwas weniger als 100 Jahre. Nun gut, auch wenn Zahlen offenbar nicht ihre Stärke sind, ihr geht es darum, dass das AA-Gedankengut die ganze Gesellschaft durchzieht. „Alkoholabhängige werden nicht nur von den AA als egozentrische, selbstsüchtige Lügner angesehen, die zu Bescheidenheit und Demut erzogen werden müssen.“ Man merkt, dass sie nur kurze Zeit bei den AA war und offenbar wenig verstanden hat, denn wäre das wirklich das Weltbild der AA (ist es nicht, überhaupt nicht), hätte ich mich ganz sicher auch dagegen gewehrt und wäre bestimmt nicht seit nunmehr über 31 Jahren trocken.
Quit Like A Woman ist aus einer nordamerikanischen Perspektive geschrieben, wo „mindestens 73 Prozent aller Behandlungseinrichtungen mit dem Zwölf-Schritte-Programm“ arbeiten. Damit es nicht ungesagt bleibt: Ich tue das auch. Doch in der Schweiz, wo ich lebe, ist der Einfluss der AA eher gering, die Psychoindustrie weit einflussreicher. Und es hat sicher noch Platz für Holly Whitakers Tempest Sobriety School, für die sie mit diesem Buch Werbung macht.
Whitakers Ablehnung der AA ist ziemlich umfassend. So lehnt sie vollständige Abstinenz ab, zieht es vor, „sich Abstinenz langsam anzutrainieren“, denn: „Für Menschen, die versuchen, mit dem Trinken aufzuhören, sind Stress und Druck fatal.“ Es ist so recht eigentlich umgekehrt. Ich jedenfalls hätte ohne Stress und Druck wohl nie aufgehört zu saufen. Und Nein, natürlich unterscheide ich nicht zwischen innerem und äusserem Druck, das sind Pseudo-Unterscheidungen, die nur für die funktionieren, die daran glauben. Man kann vieles glauben und dazu gehört auch viel Unsinn wie, zum Beispiel, dass Frauen, so die Autorin, aus anderen Gründen suchtkrank werden als Männer. So blödsinnig diese Behauptung auch ist (suchtkrank wird man, wenn man nicht fühlen will, was man fühlt – gender-übergreifender geht kaum), offenbar lässt sich darauf ein Geschäft gründen. „Who profits?“, fragt man in Amerika, wenn wieder einmal jemand mit einer angeblich neuen Idee auf den Markt drängt. Das Zwölf-Schritte-Programm ist übrigens gratis.
Und wo bleibt das Positive? Besonders die Aufklärungen zur Tabak- und Alkoholindustrie fand ich ausgesprochen hilfreich. Und das Kapitel „Alkohol und körperliche Gesundheit“ sollte Pflichtlektüre sein.
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