Nach dem Aufwachen, der Film in meinem Kopf transportiert mich nach Santa Cruz do Sul. Dort: Sonnenschein, Vogelgezwitscher, der Jabuticaba-Baum. Hier: Sonnenschein, Vogelgezwitscher, der Apfelbaum.
Ich habe mir angewöhnt, nach dem Erwachen liegen zu bleiben und meine Gedanken zu beobachten – es ist völlig irre, unfassbar und faszinierend, was da abläuft: Rasant wechseln die Schauplätze an diesem Morgen. Gerade noch war ich in Oberschan und jetzt bin am Santa Monica Pier in Los Angeles. Dann tauchen Bilder vom Innern der Klosterkirche Disentis vor meinem inneren Auge auf, von meiner Mutter auf dem Sterbebett, von meiner Nichte, der Turnerin, von B, in die ich mich vor Jahren heftig verliebt hatte. Kurz darauf bin ich in Maienfeld, nehme den Weg durch Weinberge nach Landquart. Dann, übergangslos, wieder in Sargans bei der Tochter eines strengen Lehrers, die einen erfolgreichen Geschäftsmann geheiratet hat, dessen erste Frau mich einmal bei einem Spaziergang über ihn ‚aufklärte‘.
Dieser ständige Strom von Bildern und Emotionen, die sich (vermutlich) in Millisekunden abwechseln, lässt mich zwar staunen, doch hinterlässt er auch ein Gefühl von Hilflosigkeit. Die Vorstellung, wir könnten das Leben in den Griff kriegen, gehört angesichts dessen, was wir beobachten, erleben und erfahren können, zu den absurdesten, die wir zu denken imstande sind. Kein Wunder, suchen wir bei diesem ständigen Wirbelwind Halt, und das Gehirn, unser Illusionen-Produzent, liefert ihn. Thomas Mann meinte im Zauberberg: „Während er den versilberten Hobel über seine mit parfümiertem Schaum bedeckten Wangen führte, erinnerte er sich seiner verworrenen Träume und schüttelte nachsichtig lächelnd, mit dem Überlegenheitsgefühl des im Tageslicht der Vernunft sich rasierenden Menschen den Kopf über so viel Unsinn.“
Konzentriert euch, fordert der Lehrer in der Schule. Was er nicht sagt, ist: Vergesst alles, was euch durch Kopf und Herz geht. Nehmt nicht wahr, was ist, nehmt nur wahr, was ihr wahrnehmen sollt. Kein Wunder, fragen wir uns hin und wieder, worin der Sinn eines solchen Lebens liegen könnte.
Aus: Hans Durrer: Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern
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