"Wegweiser einer Erfahrungsexpertin" heisst es im Untertitel. "Erfahrungsexpertin"? Der Begriff ist neu für mich und gewöhnungsbedürftig, doch was damit gemeint ist, ist mir sympathisch. Ja, mehr als sympathisch, denn ich halte diejenigen, die etwas aus eigener Erfahrung kennen für kompetenter als diejenigen, die etwas nur studiert haben. Genauer: Ich habe studierte Fachleute, die keine einschlägige Leidensgeschichte hinter sich hatten, viele Jahre schlicht für aufgeblasene Wichtigtuer gehalten. Das sehe ich heute zwar differenzierter (persönliche Betroffenheit ist nicht immer ein guter Ratgeber, eine empathische Aussensicht häufig hilfreich), doch reflektierte Erfahrung (Erfahrung allein genügt bei Weitem nicht) scheint mir nach wie vor das A und O. Und vor allem: Offenheit – auch gegenüber Fachpersonen, die ja auch nicht alle gleich sind.
Das Vorwort des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie, Gerhard Peters, bildet einen gelungenen Einstieg, da er nicht zuletzt klar macht, dass es sich bei der Autorin nicht gerade um den einfachsten Menschen auf dem Planeten handelt, was jedoch auch ihm selber gut tut – ich musste sehr schmunzeln.
Als junge Frau kriegt Nora Fieling die Diagnose "Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung Typ Borderline" und "Depressive Episode". Jetzt weiss sie zwar, dass sie an einer Krankheit leidet, "dass weder ich noch meine Gefühle falsch sind", doch dies zu akzeptieren fällt ihr schwer. Doch Akzeptanz lässt sich üben, ist ein Prozess. "The readiness is all", sagt Horatio in Hamlet.
Was ist eigentlich eine Depression? "Es bedarf nicht der eigenen Erfahrung, um eine Depression zu verstehen. Das Wissen über Fakten beugt Vorurteilen und Verständnislosigkeit vor." Und dieses Faktenwissen bietet dieses Buch. Nora Fieling hat nicht nur vielfältige Informationen zusammengetragen und leserfreundlich aufbereitet, sondern auch Fachpersonen befragt. "Beim ersten Auftreten einer Depression ist es nach evidenzbasierten Leitlinien immer notwendig, organische Ursachen auszuschliessen", so die Berliner Chefärztin Iris Hauth. Ob das auch wirklich so gemacht wird?
Ein Gespräch mit dem bereits erwähnten Gerhard Peters über Psychopharmaka und mehr, macht unter anderem deutlich, dass die Medizin zwar mit wissenschaftlichen Methoden arbeitet. jedoch keine Wissenschaft ist, also auf der Basis von "trial and error" operiert. Je mehr dies auch Nicht-Medizinern klar ist, desto besser, denn solches Wissen wappnet einen gegen falsche Hoffnungen und überzogene Erwartungen.
In einem weiteres Gespräch erläutert die Heilpraktikerin für Psychotherapie Jessica Exner ihre tiergestützte Therapie, die sie als Ergänzung zur Psychotherapie versteht. So sehr mir dieser Ansatz gefällt, ihre Aussagen zur intrinsischen Motivation teile ich überhaupt nicht. Wer glaubt, zwischen innerem und äusserem Druck unterscheiden zu können, irrt nicht nur, sondern überschätzt meines Erachtens seine Fähigkeiten gewaltig. Woher der Druck auch immer kommt, die Herausforderung ist, herauszufinden, wann er uns nützlich ist. Nicht, was ich will, sollte leitend sein, sondern was mir gut tut.
Einer der für mich hilfreichsten Gedanken in diesem Buch führt die Autorin unter dem Titel "Du musst mich nicht verstehen!" aus: "Man kann Verständnis für die Situation und die Depression aufbringen, ohne dabei das Gefühl, das der Betroffene hat, zu verstehen. Und ich kann Mitgefühl mit der Situation des Betroffenen haben, ohne selbst genauso wie er zu fühlen. Insofern kann ich auch Verständnis aufbringen, ohne mein Gegenüber konkret zu verstehen."
"Depression - und jetzt?" ist, wie es der Untertitel verspricht, ein Wegweiser und führt aus, weshalb der Austausch im Internet helfen kann, welcher Arzt sich als Ansprechpartner eignet, was für Therapien es gibt, liefert Tipps zu Therapeutensuche und klärt auf über Peer-Beratung und Ex-In (Experienced Involvement), eine Fortbildung, die sich an Psychiatrie- und Krisenerfahrene wendet. So löblich ich es finde, dass einschlägig Erfahrene therapeutisch tätig werden, die Einbindung ins System (eine formale Ausbildung ist nie etwas anderes), finde ich mehr als problematisch, denn jedes gesellschaftliche Nicht-Funktionieren ist auch (und zwar wesentlich) ein Zeichen von seelischer Gesundheit. Nora Fieling geht unter dem Titel "Depression - eine gesunde Reaktion auf einen kranken Zustand!?" ebenfalls darauf ein. Siehe auch hier.
Wie von einer Erfahrungsexpertin nicht anders zu erwarten, werden wir auch darüber aufgeklärt, wie es ihr unter anderem in voll- und teilstationären psychiatrischen Einrichtungen ergangen ist. Ihr Urteil ist überwiegend positiv, auch wenn sie am Anfang vielen Massnahmen sehr kritisch gegenüber stand. "Im Nachhinein betrachtet war der Aufenthalt in der Psychiatrie für mich hilfreich, weil ich aus meine gewohnten Umgebung herauskam und so Abstand vom negativ belastenden Alltag erlangte." Und dies ermöglichte ihr, zu lernen, was wir alle zu lernen haben (und für einige entschieden schwieriger ist als für andere): Selbst-Akzeptanz.
Nora Fieling
Depression - und jetzt?
Wegweiser einer Erfahrungsexpertin
Starks-Sture Verlag, München 2020
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