Nichts, was nicht zur Sucht werden könnte, lautet die heutzutage gängige Auffassung. Der Autor, Therapeut und Analytiker Roland Voigtel sieht das dezidiert anders. "Entgegen diesem 'weiten' Suchtbegriff muss festgehalten werden, dass Sucht eine spezifische Krankheit mit angebbaren Ursachen ist und nicht einfach jeder befallen werden kann."
Dass nicht jeder süchtig werden kann, das sehe ich auch so. Was jedoch die angebbaren Ursachen angeht, da bin ich mehr als skeptisch. Bislang, so jedenfalls mein Wissensstand, war man bei der Frage, warum etwa jemand zum Trinker wird, auf Mutmassungen und Interpretationen angewiesen.
Roland Voigtel versteht die Sucht als Abwehrsystem. Sie sei grundsätzlich "eine konstitutive Funktion der gesunden, arbeitenden Psyche und nichts 'Krankes', sodass es durchaus angemessen wäre, von einer 'Schutz' oder psychischen 'Immunfunktion' zu sprechen", wie er in seinem Buch Sucht schreibt.
In einem der Beispiele, die er anführt, schildert er den Fall einer jungen Frau mit Borderline Persönlichkeitsstörung, bei der er aufzeigt, dass "die Sucht als Abwehr ebenso der Stabilisierung dient wie das Abwehren per Agieren, per gewaltsamer Übertragung ('projektive Identifizierung') und per Selbstverletzung." Mit anderen Worten: Alkohol und Drogen können helfen eine Initialverstimmung (im Falle von Borderline: Panikgefühle, Wut- und Hassanfälle etc) zu verdrängen, zu neutralisieren, zu stabilisieren.
Ich teile diese Einschätzung, obwohl sie fast wie ein Plädoyer für den Suchtmittelgebrauch klingt. Die Sucht als gleichsam heilende Kraft? Sicher, konstruktive Süchte, die gibt es: es sind die, die einen nicht nur am Leben halten, sondern ihm darüber hinaus Sinn und Zweck geben können.
Roland Voigtels Sucht ist ein ziemlich akademisches Buch in dem Sinne, dass ganz viele Unterscheidungen vorgenommen werden, um Begriffe gerungen wird und viele Kollegen zu Wort kommen. Andererseits ist es auch ein erfrischend persönliches Buch, denn der Autor referiert zahlreiche Beispiele aus seiner Praxis und bringt dabei auch seine eigene Rolle mit ein. So schildert er etwa freimütig, dass einer seiner Patienten zweimal alkoholisiert zur Sitzung kam. Ich wunderte mich, dass er die Sitzung nicht sofort abgebrochen hat, zumal er doch an anderer Stelle selber schreibt: "Daher ist meine Bedingung, wenn ich mich auf einen Patienten einlassen soll, dass er nüchtern zu den Sitzungen erscheint."
Die süchtige Persönlichkeit werde von der Notwendigkeit getrieben, "ihren psychischen Selbst-Kern abwehrend zu stabilisieren", behauptet Voigtel. Schon möglich und durchaus plausibel, nur: Wo ist die Evidenz für solch einen psychischen Selbst-Kern?
Auch unter Psychoanalytikern herrscht keine Einigkeit darüber, was genau unter Sucht zu verstehen ist. So unterscheidet etwa Wolf-Detlef Rost die Sucht vom Suchtsymptom. "Er trennt also das Suchtsymptom von der eigentlichen Sucht, die angeblich auch ohne Symptom existieren kann und dann eine eher unspezifische Persönlichkeitsstörung ist", kommentiert Voigtel, der dagegen hält, dass aus der klinischen Erfahrung Fälle bekannt sind, "in denen die Suchtproblematik die ganze Persönlichkeit beherrscht." Nun ja, wer nicht auf Entweder/Oder-Kategorien fixiert ist, wird wohl beide Ausprägungen unter Sucht subsumieren.
Die Psychoanalyse geht davon aus, dass die süchtige Abwehr (wie andere Abwehren auch, zum Beispiel soziale Rückzüge oder aggressives Einwirken auf Objekte), an der Heranbildung einer psychischen Struktur mitgewirkt hat und "nicht grundsätzlich geändert werden kann, ohne die Identität des Menschen zu zerstören."
"Daher geht es bei der psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Therapie der Sucht, sei es als Symptom oder als umfassende strukturelle Störung, 'lediglich' darum, dem Süchtigen dabei zu helfen, seine psychische Struktur zu verstehen (was nicht leicht ist), zu akzeptieren und so mit ihr umzugehen, dass er ein erträgliches und subjektiv sinnvolles Leben ohne Selbsthass und Selbstzerstörung mit ihr führen kann."
Den Nachweis, dass Sucht eine spezifische Krankheit mit angebbaren Ursachen ist, erbringt Roland Voigtel meines Erachtens nicht. Stattdessen stellt er Mutmassungen an innerhalb des psychoanalytischen Glaubens- und Denksystems, durchaus kritisch und auch selbstkritisch. Und da er differenziert, interessant und anregend mutmasst, habe ich Sucht mit Gewinn gelesen.
Roland Voigtel
Sucht
Psychosozial-Verlag, Giessen 2015
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