Mit "Keine Seele ohne Makel" ist das Vorwort von Jörg Blechs Die Psychofalle überschrieben: "Ein Normaler ist heute bloss ein Mensch, den der Therapeut noch nicht gründlich untersucht hat." Auch wenn man das vermutlich so oder ähnlich auch an Stammtischen hören kann, heisst das ja noch lange nicht, dass es nicht stimmt. SPIEGEL-Redakteur Jörg Blech liefert in diesem Buch nachprüfbare Informationen für seine These, dass wir gar nicht so anfällig sind "für seelische Erkrankungen, wie uns die Krankheitserfinder der Seele glauben machen wollen."
Doch wer entscheidet eigentlich, was eine psychische Störung ist und was nicht? Die APA, die American Psychiatric Association, die mit 36 000 Mitgliedern grösste Psychiatervereinigung der Welt. Genauer: diese Aufgabe wurde einem Ausschuss von 160 Mitgliedern übertragen, der mit Mehrheitsbeschluss bestimmt. Wissenschaftlich ist dabei so recht eigentlich gar nichts. Das Resultat ist das DSM, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen, die Bibel der Psychiatrie.
Das DSM fusse hauptsächlich auf den Symptomen, lese ich, "und blendet Umwelt wie auch soziale Faktoren oftmals aus. Und genau aus diesem Grund gibt es auch so viele positive Befunde: Ärzte lassen sich alleine von den Symptomen leiten und diagnostizieren psychische Erkrankungen, wo gar keine sind." So hat etwa Michael Linden die posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED) erfunden, von der etwa 2 Prozent der Bevölkerung betroffen sei. Zum Beispiel Gabriele Müller, die arbeitslos und deswegen, das ist leicht nachvollziehbar, verbittert wurde. Sie hält sich zu Recht nicht für krank und weiss auch, was ihr gut tun würde: "Die beste Therapie wäre doch, ich würde eine Arbeit finden." Und so schreibt sie Bewerbung um Bewerbung, zieht in eine andere Stadt und hat jetzt eine feste Anstellung.
Dass der moderne Mensch immer gestresster und mithin kränker ist als zu früheren Zeiten, das weiss heute jeder. Doch wie kommt es dann, dass in Westeuropa und Nordamerika die gemessene Lebenszufriedenheit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zugenommen hat und die Zahl der Suizide zurückgegangen ist? Möglicherweise ist man gut beraten, nicht alles zu glauben, was einem eingeredet wird.
Besonders aufschlussreich fand ich das Kapitel über "Seelsorge für die Industrie". Mehr als die Hälfte der Autoren, die bei DSM-5 mitgemacht haben, "mussten einräumen, dass sie finanziell mit der Industrie verbunden sind. Rund 70 Prozent von ihnen arbeiteten als Berater oder Redner für pharmazeutische Firmen und nahmen von diesen dafür Honorare an." Es ist in der Tat nützlich, bei welchen Problemstellungen/Sachverhalten auch immer, zu fragen: wer profitiert? Jörg Blech nennt Namen.
Was ist wichtiger, die Umwelt oder die Gene? "Viele Merkmale und Verhaltensweisen, die heute manchen als psychische Störungen gelten, sind natürliche Anpassungen, die sich im Zuge der Evolution entwickelt haben und im Gehirn des Menschen fest verdrahtet sind." Bei dem Wenigen, das wir über das Gehirn und die Gene wissen, erstaunt mich immer wieder, mit welcher Bestimmtheit solche Aussagen gemacht werden.
Die Psychofalle äussert sich auch zu ADHS, Burnout, die guten Seiten der Angst und der Depression sowie darüber, dass es in der Pubertät normal ist, nicht immer normal zu sein. Zudem erfahren wir, dass traurige Menschen weniger Vorurteile haben, schwermütige Menschen höflicher und fairer sind und dass ab und zu nicht zu funktionieren ganz okay ist.
Jörg Blech erinnert uns daran, dass unsere Seele viel wehrhafter ist, als man uns weismachen will. Die Psychofalle ist eine Lektüre, die lohnt.
Jörg Blech
Die Psychofalle
Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht
S. Fischer, Frankfurt am Main 2014
www.fischerverlage.de
Doch wer entscheidet eigentlich, was eine psychische Störung ist und was nicht? Die APA, die American Psychiatric Association, die mit 36 000 Mitgliedern grösste Psychiatervereinigung der Welt. Genauer: diese Aufgabe wurde einem Ausschuss von 160 Mitgliedern übertragen, der mit Mehrheitsbeschluss bestimmt. Wissenschaftlich ist dabei so recht eigentlich gar nichts. Das Resultat ist das DSM, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen, die Bibel der Psychiatrie.
Das DSM fusse hauptsächlich auf den Symptomen, lese ich, "und blendet Umwelt wie auch soziale Faktoren oftmals aus. Und genau aus diesem Grund gibt es auch so viele positive Befunde: Ärzte lassen sich alleine von den Symptomen leiten und diagnostizieren psychische Erkrankungen, wo gar keine sind." So hat etwa Michael Linden die posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED) erfunden, von der etwa 2 Prozent der Bevölkerung betroffen sei. Zum Beispiel Gabriele Müller, die arbeitslos und deswegen, das ist leicht nachvollziehbar, verbittert wurde. Sie hält sich zu Recht nicht für krank und weiss auch, was ihr gut tun würde: "Die beste Therapie wäre doch, ich würde eine Arbeit finden." Und so schreibt sie Bewerbung um Bewerbung, zieht in eine andere Stadt und hat jetzt eine feste Anstellung.
Dass der moderne Mensch immer gestresster und mithin kränker ist als zu früheren Zeiten, das weiss heute jeder. Doch wie kommt es dann, dass in Westeuropa und Nordamerika die gemessene Lebenszufriedenheit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zugenommen hat und die Zahl der Suizide zurückgegangen ist? Möglicherweise ist man gut beraten, nicht alles zu glauben, was einem eingeredet wird.
Besonders aufschlussreich fand ich das Kapitel über "Seelsorge für die Industrie". Mehr als die Hälfte der Autoren, die bei DSM-5 mitgemacht haben, "mussten einräumen, dass sie finanziell mit der Industrie verbunden sind. Rund 70 Prozent von ihnen arbeiteten als Berater oder Redner für pharmazeutische Firmen und nahmen von diesen dafür Honorare an." Es ist in der Tat nützlich, bei welchen Problemstellungen/Sachverhalten auch immer, zu fragen: wer profitiert? Jörg Blech nennt Namen.
Was ist wichtiger, die Umwelt oder die Gene? "Viele Merkmale und Verhaltensweisen, die heute manchen als psychische Störungen gelten, sind natürliche Anpassungen, die sich im Zuge der Evolution entwickelt haben und im Gehirn des Menschen fest verdrahtet sind." Bei dem Wenigen, das wir über das Gehirn und die Gene wissen, erstaunt mich immer wieder, mit welcher Bestimmtheit solche Aussagen gemacht werden.
Die Psychofalle äussert sich auch zu ADHS, Burnout, die guten Seiten der Angst und der Depression sowie darüber, dass es in der Pubertät normal ist, nicht immer normal zu sein. Zudem erfahren wir, dass traurige Menschen weniger Vorurteile haben, schwermütige Menschen höflicher und fairer sind und dass ab und zu nicht zu funktionieren ganz okay ist.
Jörg Blech erinnert uns daran, dass unsere Seele viel wehrhafter ist, als man uns weismachen will. Die Psychofalle ist eine Lektüre, die lohnt.
Jörg Blech
Die Psychofalle
Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht
S. Fischer, Frankfurt am Main 2014
www.fischerverlage.de
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen