Als die Therapeutin Grace beim
Langlaufen bei Montréal auf einen Mann stösst („Auf den ersten
Blick verwechselte sie ihn mit irgendetwas. Im winterlichen
Dämmerlicht hätte es auch ein Ast oder ein Holzscheit, ja, selbst
ein Reifen sein können.“), der gerade versucht hat, sich
aufzuhängen, gibt sie ihrem Helferimpuls nach. Genauso wie Anne,
Grace' frühere Patientin, die sich in New York als Schauspielerin
versucht: sie nimmt zuerst die junge Hilary und dann auch noch deren
Freund Alan bei sich auf. Und genauso wie Mitch, Grace' Exmann und
ebenfalls Therapeut, der seine Frau Martine, die er liebt, verlässt,
um einer Inuit-Gemeinde bei ihren Problemen zu helfen.
Der Mann, den Grace aus dem Schnee
gerettet hat, heisst Tug; die beiden kommen in der Folge zusammen,
obwohl Tug findet, Grace leide unter einem Helferkomplex und er nicht
ihr Patient sein will. Er selber ist jedoch auch ein Helfertyp und
war in Ruanda als Entwicklungshelfer im Einsatz als dort das grosse
Morden begann: „Entwicklungshelfer hingegen waren unverbesserliche
Romantiker, auch wenn sie es niemals zugegeben hätten, hin und her
gerissen zwischen Idealismus und Pragmatismus.“
Alix Ohlin ist eine genaue und
einsichtsvolle Beobachterin, so lässt sie etwa Grace sagen:
„Mittlerweile fünfunddreissig, dachte sie, dass sie vielleicht
einfach nicht für die Ehe geschaffen war – eine Aussage, die sie
von der Hand gewiesen oder zumindest mit einer hochgezogenen
Augenbraue bedacht hätte, wäre sie von einem ihrer Patienten
gekommen. Das Privileg des Therapeuten bestand manchmal eben darin
wieder die alten Scheuklappen anlegen zu können.“ Und offenbart
immer wieder hellsichtige psychologische Einsichten, so etwa wenn sie
das Zusammenleben von Mitch und seinem Wohngenossen im Inuit-Land wie
folgt charakterisiert: „Johnny war ein Selbstdarsteller, ein echter
Geschichtenerzähler, und der Umstand, dass er sich für andere nicht
interessierte, war Mitch nur recht, da er keine Lust hatte, etwas von
seinem Leben in Montréal zu erzählen.“
Nachdem Mitch bei den Inuit
therapeutisch scheiterte, kehrt er wieder nach Montréal zurück,
doch Martine will nichts mehr von ihm wissen. Stattdessen trifft er
seine Ex-Frau Grace wieder, die nach einem Autounfall froh um seine
Hilfe und Unterstützung ist. Die beiden tauschen sich auch über
ihre Erfahrungen als Therapeuten aus: „Aber manchmal tun wir auch
zu viel des Guten“, fuhr er fort. „Wir haben fast schon zu viel
Macht über andere, findest du nicht?“ Sie schüttelt den Kopf:
„Die Leute machen sowieso, was sie wollen, egal, was wir ihnen
raten.“
Hinzuzufügen wäre da höchstens, dass
Therapeuten da ganz ähnlich sind, sie tun auch nicht, was sie ihren
Patienten raten. In den Worten von Grace „Wäre sie ihre eigene
Patientin gewesen, hätte sie sich geraten, dem Ganzen so schnell wie
möglich ein Ende zu machen. Stattdessen zog sie die Beine unter sich
und betrachtete ihn. Sie wollte nicht, dass er ging.“
Anne wiederum erfährt, dass alles ganz
anders ist, als Hilary sie hat glauben lassen. Sie beschliesst,
fortan ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und organisiert sich
ein Engagement als Schauspielerin im schottischen Edinburgh. Und hat
dann Erfolg in L.A., wo sie unter anderem auf all die kalifornischen
Pflanzen aufmerksam wurde wie „Eukalyptus, Yucca, Bougainvillea,
lauter Worte, die Anne wie eine neue Sprache vorkamen.“
„In einer anderen Haut“ zeigt sehr
schön auf, wie schwierig und gefährlich Helfen sein kann. Dass
Helfer in einen Sog hineingeraten können, wo sie selber zu Opfern
werden. Und doch hat die Geschichte ein Happy End.
Ein ganz tolles, bewegendes Buch.
Alix Ohlin
In einer anderen Haut
C.H. Beck Verlag, München 2013
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