Mittwoch, 28. August 2024

Was ist ein Problem?

 Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Sie etwas über Tagoona, den Eskimo, erfahren. Im vergangenen Jahr sagte einer von unseren weissen Leuten zu ihm: Wir freuen uns sehr darüber, dass Sie als erster Ihres Volkes zum Priester geweiht worden sind. Jetzt können Sie uns dabei helfen, die Probleme der Eskimos zu lösen. Tagoona fragte: Was ist ein Problem? Und der Weisse sagte: Tagoona, wenn ich Sie an den Füssen aus einem Fenster im dritten Stock hinaushielte, so wäre das für Sie ein Problem. Tagoona dachte lange und eingehend darüber nach. Dann sagte er: Das glaube ich nicht. Wenn Sie mich verschonen, so wäre alles gut. Wenn Sie mich fallen liessen, wäre sowieso alles egal. Dann hätten Sie das Problem.

Margaret Craven: Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen

Mittwoch, 21. August 2024

Trotzdem Ja zum Leben Sagen

Trotzdem Ja zum Leben Sagen ist ein Klassiker. Und das meint: Was der Autor hier vorlegt, sind Einsichten, die nicht von der Zeit abhängen, in der sie niedergeschrieben wurden, sie haben gleichsam ewige Gültigkeit. Vor allem jedoch sind es grundsätzliche Gedanken, an denen es heutzutage, da wir in Detailproblemen ersaufen, weitgehend fehlt. 

Die Autorin Ariadne von Schirach hat ein persönliches und erhellendes Vorwort zu dieser Neuausgabe verfasst, worin sie auch darauf hinweist, dass Frankl uns daran erinnere, dass das Leben an sich einen unverlierbaren Sinn habe. Ob dem wirklich so ist, weiss ich nicht, muss ich vielleicht auch gar nicht wissen, doch sich danach auszurichten, erachte ich als sinnvoll. Skeptischer bin ich heutzutage gegenüber der Aussage, der ich bis vor Kurzem vorbehaltlos zugestimmt hätte: "Doch nur wenn wir bewusst leben, haben wir wirklich gelebt." Denn die besten Momente, jedenfalls für mich, sind die, an denen ich bewusst gar nicht teilhabe, in denen ich mich selber vergesse.

Es gibt noch ein zweites Vorwort, von Hans Weigel zur Originalausgabe. "Viktor Frankl hat gelebt, was er lehrt." Überzeugender geht es kaum. Wie jeder und jede weiss, ist das selten genug.

Mein eigener, ausgesprochen positiver Bezug zu Viktor Frankl liegt vor allem seine Aussage zugrunde, gemäss der es nur zwei Rassen von Menschen gebe: Die Anständigen und die Unanständigen. Und da die Anständigen in der Minderheit seien, gelte es diese zu stärken. dann aber auch darin, dass sich seine Logotherapie/Existenzanalyse an Sinn- und Werte-Fragen orientiert.

Trotzdem Ja zum Leben Sagen handelt vom unbekannten KZler, der nur als Nummer existiert. "Und ich sage nicht ohne Stolz, dass ich nicht mehr als solch ein 'gewöhnlicher' Häftling war – eben nichts als die blosse Nr. 119 104 war." Als solcher lernt er unter anderem, die Dinge an sich herankommen zu lassen, und er erfährt, dass der Mensch sich an alles gewöhnt.

Immer mal wieder hat er im Lager erfahren, dass das Schicksal mit den Insassen gespielt hat, "erfahren, wie fragwürdig alles menschliche Entscheiden ist, und zwar gerade dort, wo es um Leben oder Tod geht", wobei er auch konstatiert, dass die Flucht nach innen, besonders für zarte Konstitutionen, nützlich sein kann. "Denn gerade ihnen steht der Rückzug aus der schrecklichen Umwelt und die Einkehr in ein Reich geistiger Freiheit und inneren Reichtums offen."

Es sind persönliche und detaillierte Schilderungen, die in der Erkenntnis gipfeln, "dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein 'So oder so'!" Und er fügt hinzu: "In letzter Sicht erweist sich das, was mit dem Menschen innerlich geschieht, was das Lager aus ihm als Menschen scheinbar 'macht', als das Ergebnis einer inneren Entscheidung."

Frankl begreift das Schicksal als Geschenk, zu dem wir uns zu verhalten haben  – wir können es ablehnen oder annehmen, inklusive des Leids und der Qual. "Man denke nur nicht, dass derartige Überlegungen lebensfern oder weltfremd sind. Gewiss, solcher Höhe sind nur wenige und seltene Menschen fähig", doch sie bezeugen, "dass der Mensch innerlich stärker sein kann als sein äusserliches Schicksal, und nicht nur im Konzentrationslager."

Zentral sei es, ein Ziel zu haben; Nietzsche habe dies vielleicht am treffendsten ausgedrückt: "Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie." Doch so wesentlich diese Zielorientierung auch ist, das Mahnwort von Bismarck sollte darob nicht vergessen werden. "Im Leben geht es einem so wie beim Zahnarzt: Immer glaubt man, das Eigentliche kommt erst, und inzwischen ist es schon vorbei. Variierend könnte man sagen: die meisten Menschen im Konzentrationslager glaubten, die wahren Möglichkeiten der Verwirklichung seien nun dahin – und in Wirklichkeit bestanden sie eben darin, was einer aus diesem Leben im Lager machte: ein Vegetieren, so wie die Tausende von Häftlingen, oder aber, so wie die Seltenen und Wenigen, ein innerer Segen."

Die Frage nach dem Sinn des Lebens sollte uns leiten. Viktor Frankl stellt sie allerdings ganz anders als gemeinhin üblich: Entscheidend sei nicht, was wir vom Leben erwarten, sondern was das Leben von uns erwarte. Die rechte Antwort darauf ergebe sich "nicht durch ein Grübeln oder Reden, sondern nur durch ein Handeln, ein richtiges Verhalten, die rechte Antwort geben. Leben heisst letztlich eben nichts anders als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem Einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde."

Neben den Aufzeichnungen  aus dem Konzentrationslager enthält dieses Buch auch "eine metaphysische Conférence" (Synchronisation in Birkenwald), bei der auch Spinoza, Kant und Sokrates in Erscheinung treten und sich Gedanken über die heutige Zeit (es ist 1946) machen, in der das Unglaubwürdigste die Wahrheit ist. "Und wer sie ausspricht, ist von vorneherein unzeitgemäss, und seine Rede bleibt unwirksam." Möge diesem Werk das Gegenteil beschieden sein!

Trotzdem Ja zum Leben Sagen ist ein überaus hilfreiches Buch, wesentlich und von praktischer Relevanz.

Viktor E. Frankl
Trotzdem Ja zum Leben Sagen
Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager
Kösel, München 2024

Sonntag, 18. August 2024

Migräne & Linderung

Die 1984 geborene Celia Svedhem ist Psychotherapeutin, lebt mit Mann und zwei Kindern in Jönköping. Der dunkle Raum. Die Geschichte der Migräne und mein Weg zur Linderung legt Zeugnis ab von ihrer Auseinandersetzung mit einer Krankheit, für die viele kein Verständnis haben. Das liegt an der Ignoranz, dem weitaus grössten Unheilstifter auf unserem Planten.

Die Migräne kann sich in vielerlei Formen zeigen, mir selber ist die Variante mit einer Aura vertraut, die zumeist harmlos verläuft, doch mich einmal auch ins Spital brachte. Celia Svedhem hingegen erfährt heftige Kopfschmerzen, die auch Erbrechen zur Folge haben können.

Sie sucht Mediziner auf, macht sich in der Literatur kundig, lernt, dass sowohl Joan Didion und Siri Hustvedt unter Migräne litten und den Anfällen dadurch begegneten, dass sie die Kapitulation dem Kämpfen vorzogen. Nur eben: Sich hinzulegen und geschehen zu lassen, was geschieht, ist für eine Mutter mit zwei kleinen Kindern keine Option.

Die Schmerzen, die sie zu ertragen hat, sind für jemanden, der das nicht kennt, schwer nachvollziehbar, doch Celia Svedhem versteht sich ausgezeichnet auf konkrete Schilderungen. "... hoffe ich panisch, dass ich es schaffe, nach Hause zu kommen, bevor die Schmerzen unerträglich werden, denn dann kann ich nicht mehr Auto fahren." Sie versucht es mit Botox, dann mit neuen Schmerzmitteln, die zuerst eine Entgiftung erfordern.

Sie ist sehr selbst-reflektiv, macht sich oft Gedanken wie sie auf andere, insbesondere auf ihre Kinder, wirkt. Überzeugend ist, dass sie keine Rechtfertigungen dafür sucht, dass sie, wenn sie unter Schmerzen leidet, nicht die Mutter ist, die sie gerne wäre. "Mama", ruft Elsa, "die andere Mama ist viel lustiger als du!"

Wie der Untertitel Die Geschichte der Migräne und mein Weg zur Linderung klar macht, ist dieses Buch keine Nabelschau, sondern der (sehr gelungene) Versuch, die Migräne in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. So berichtete bereits Hippokrates (ca. 400 v.Chr.) davon, auch waren die Heilungs- und Linderungsansätze immer schon mannigfaltig, zudem begriffen eingeborene Völker in Brasilien (Heimsuchung durch rachsüchtige Geister) und Bolivien (Behandlung mit dem Urin von Schamanen) die Krankheit ganz unterschiedlich.

Der dunkle Raum handelt auch vom überlasteten schwedischen Gesundheitssystem, den Kosten, die von der Versicherung nicht gedeckt sind und von häufig ratlosen Ärzten und Ärztinnen, bei denen einen Termin zu kriegen, offenbar sehr viel Geduld erfordert. Es sind nicht zuletzt solche Alltagsdetails, die das Leiden an der Migräne über das Persönliche herausheben.

Hat die Migräne eigentlich auch etwas Gutes?, fragt sich Celia Svedhem. Liesse sich diese gewaltige Kraft, die in diesen Stürmen im Kopf steckt, nicht auch kreativ nutzen?  So litten etwa Lewis Carroll, Salvador Dalí, Richard Wagner, Gustav Mahler, Friedrich Nietzsche, Charles Darwin und Sigmund Freud unter Migräne.

Eine Neurologin erläutert ihr, es sei enorm wichtig zu verstehen, dass man selber nichts dafür und die Migräne auch nicht beeinflussen könne. Zuerst erleichtert sie das, doch kurz darauf liest sie bereits wieder fast alles zum Thema Migräne, von Selbsthilfebüchern über Yoga zur Ernährung. Und lernt dabei auch nichts anderes als ihr die Neurologin geraten hatte. "Packen Sie sich den Tag nicht so voll."

Mit "Nietzsche, Darwin und die Bedeutung von Sinn" ist eines der Kapitel überschrieben und man erahnt, dass es nicht darum geht, sich mit der Migräne auseinanderzusetzen, wenn wir trotz Schmerzen ein sinnvolles Leben leben wollen. Vielmehr geht es um die Gefühle, die wir nicht wahrhaben wollen. "Wahrscheinlich ist es, wie sich von einer Sucht zu befreien, die – mit Essen, Alkohol oder Drogen – immer alles kompensierte, was in einem zu toben anfing." Joan Didion war der Meinung, es gebe ganz bestimmt "so etwas wie 'eine Migränepersönlichkeit', wie es die Ärzte nennen, und diese Persönlichkeit neigt zu Ehrgeiz, ist nach innen gerichtet, intolerant gegenüber Fehlern, ziemlich unbeweglich, ein Perfektionist."

Was für Sucht gilt, trifft auch für die Migräne zu: Wer sie nicht selber erlebt hat, wird sie kaum verstehen können. Der dunkle Raum zeigt eindrücklich, dass das nicht so bleiben muss, denn Celia Svedhem erreicht mit diesem aufschlussreichen Werk nicht nur unseren Verstand, sondern auch unser Herz.

Celia Svedhem
Der dunkle Raum
Die Geschichte der Migräne und mein Weg zur Linderung
Kunstmann, München 2024

Mittwoch, 14. August 2024

Das ausgeglichene Gehirn


"In diesem Buch geht es darum, wie unsere Gehirn ein individuelles Gefühl für psychische Gesundheit konstruiert, indem es lernt, die komplexen, veränderlichen Informationen unserer Umwelt zu vorhersehbaren Konzepten zu ordnen", so die Neurowissenschaftlerin Camilla Nord.

Wir alle verfügen über ein eigenes Weltbild, das aus Erlebnissen und auf der Basis unserer Gene erzeugt wird. Dieses Weltbild ist nicht statisch, sondern verändert sich. Und zwar bei jedem und jeder wieder anders, weshalb denn auch die vielfach gehörte Behauptung, das Mittel X oder Y würde der Psyche guttun, bestenfalls auf den Durchschnitt einer Gruppe, zutrifft. Mit anderen Worten: Was dem einen hilft, kann für die andere schädlich sein.

Das alles miteinander zusammenhängt, ist heutzutage ein Gemeinplatz. Was das konkret heisst, beschreibt dieses Buch an zahlreichen Beispielen aus der Forschung. So verringert etwa eine schwere psychische Erkrankung wie Schizophrenie, bipolare Störung oder Depression die Lebenserwartung um schätzungsweise 25 Jahre. Das liegt am erhöhten kardiovaskulären Risiko und könnte nicht eindrücklicher unterstreichen, wie untrennbar körperliche und psychische Gesundheit miteinander verbunden sind.

Die Autorin zitiert viele wissenschaftliche Studien, von denen allerdings nicht wenige auch nichts anderes sagen, was wir auch ohne sie wissen (könnten). "Studien zu chronischen Schmerzen belegen, dass die Chronifizierung neurologisch gesehen mehr mit einer psychischen Beeinträchtigung zu tun haben könnte als mit akutem Schmerz." Darüber hinaus, kommt auch medizinisches Fachchinesisch nicht zu kurz. "Die stressinduzierte Analgesie geht auf ein säugetierspezfisches System endogener Opioide im Gehirn zurück,. das bei Schmerz und Stress aktiviert wird."

Zu den Fragen, die in diesem Buch abgehandelt werden, gehört auch: "Wie wirken Antidepressiva?" Wer sich darauf eine allgemeinverbindliche Antwort erwartet, wird enttäuscht sein, denn eindeutige, für alle geltenden Antworten kann die Medizin nun einmal nicht leisten, da sie keine Wissenschaft ist, auch wenn sie mit wissenschaftlichen Methoden arbeitet. "Insgesamt sind Antidepressiva für manche Menschen ein extrem hilfreicher Baustein ihrer Behandlung, aber nicht für jeden und jede die richtige Therapie."

Obwohl ein Fan der Wissenschaft und der Überzeugung, dass wir ihr unglaublich viel zu verdanken haben, gehe ich davon aus, dass sie auch immer wieder an ihre Grenzen stösst. Schliesslich muss sie sich darauf beschränken, was gemessen werden kann. "Wie Psychotherapie das Gehirn verändert" heisst eine Kapitelüberschrift. Für mich bleibt fraglich, ob die Psychotherapie das wirklich tut bzw. ob man das überhaupt messen kann.

Die Autorin plädiert dafür, "die alte Spaltung zwischen 'psychologischen' und 'körperlichen Komponenten der psychischen Gesundheit hinter und (zu) lassen", denn diese Unterteilung sei wissenschaftlich überholt und könnte sogar eher schaden. Sie geht davon aus, dass psychische Gesundheit und Krankheit von unserem Nervensystem konstruiert werden, folglich "psychische Gesundheit auch rekonstruiert werden" kann. Klingt logisch. Ob unser Leben jedoch wirklich nach dieser Wenn-Dann-Logik funktioniert, ist eine ganz andere Frage. Und diese geht es allerdings nicht in diesem Buch, das sich auch dadurch auszeichnet, dass Camilla Nord sich immer mal wieder persönlich einbringt   die Schilderung ihrer Erfahrungen mit Yoga und Meditation sind wunderbar witzig.

Fazit: Informativ und unterhaltsam.

Dr. Camilla Nord
Das ausgeglichene Gehirn
Was uns die Neurowissenschaft
über mentale Gesundheit verrät
Neueste Erkenntnisse über die positive
Wirkung von Therapien, Psychedelika,
Schokolade und Co.
Kösel, München 2024

Mittwoch, 7. August 2024

Weisheit des ungesicherten Lebens

Dieses Buch (die englische Originalausgabe erschien 1951) ist von grundsätzlicher Art und deshalb zeitlos bzw. immer aktuell. Mit anderen Worten: Es sind hilfreiche Gedanken, die Alan Watts hier äussert, hilfreich deswegen, weil sie aufzeigen, wie wir durch unser Denken Leiden schaffen. Sicher, unser Denken hat uns auch viel erreichen lassen, aber eben für einen Preis, der nicht gerade klein ist.

"Das Aufregendste am 'ICH', an der Natur und am Weltall ist vielleicht, dass es sich nie festhalten lässt. Doch genau dies tut unser Denken, das um das Leben sinnvoll zu machen, dieses in festen Ideen und Gesetzen verständlich zu trachten versucht. Nur eben: Das im Denken sich manifestierende 'ICH' ist "in Wirklichkeit ein Strom von Erfahrungen, Empfindungen, Gedanken und Gefühlen", der ständig in Bewegung ist.

Für Watts besteht das bedeutendste Merkmal des Leben darin, dahinzuströmen, und so recht eigentlich nicht zu fassen ist. Wir versuchen es trotzdem, denn unser Lebenswille sehnt sich nach Halt, nach etwas Festem, nach Sicherheit. Unsere Versuche sind zwar gänzlich widersinnig, doch das beeindruckt uns nicht.. "Wenn du versuchst, fliessendes Wasser in einem Eimer einzufangen, so zeigt das, dass du es nicht verstehst und dass du immer enttäuscht sein wirst, denn im Eimer fliesst das Wasser nicht. Um fliessendes Wasser zu haben, musst du es loslassen, musst du es fliessen lassen. Dasselbe gilt für das Leben und für Gott."

So recht eigentlich nehmen wir Alles und Jedes viel zu ernst, insbesondere unsere Gedanken und Gefühle, die zumeist ohne unser Dazutun kommen und gehen. "Was wir vergessen haben ist, dass Gedanken und Worte auf Vereinbarungen beruhen und dass es verhängnisvoll ist, solche Konventionen zu ernst zu nehmen." Ceci n'est pas une pipe, hatte René Magritte bekanntlich sein Bild einer Pfeife kommentiert. Genauso verwechseln wir unsere Gedanken und Worte über die Realität mit der Realität, was auch daran liegt, dass uns diese Gedanken und Worte den Halt verschaffen, nach dem wir uns sehnen.

Deutlich macht Alan Watts vor allem, dass die einzige Wirklichkeit, die wir erleben können, die Gegenwart ist, Alles Andere sind Vorstellungen, die uns allerdings eher knechten als befreien. "Es ist gerade die Realität der Gegenwart, dieses bewegte, lebendige Jetzt, das sich aller Erklärung und Beschreibung entzieht."

Selten ist mir das menschliche Paradox bewusster geworden:  "Die Wunder der Technik zwingen uns, in einer hektischen Uhrwerks-Welt zu leben, die der menschlichen Biologie Gewalt antut und uns zu weiter nichts befähigt, als der Zukunft schneller und schneller nachzueilen." Was dabei auf der Strecke bleibt, ist das Erleben der Gegenwart, der einzigen uns bekannten Realität.

Weisheit des ungesicherten Lebens ist ein ungemein anregendes Buch, das wesentlich dafür plädiert, sich der gegenwärtigen Erfahrung hinzugeben, möglichst anstrengungslos. Und wie soll das gehen? Indem man sich dem Leben hingibt, also es nicht analysiert bzw. zu verstehen versucht. Alan Watts nennt es, "über das Denken hinaus zu gehen", was bedeutet, dass "das Mysterium des Lebens nicht ein Problem ist, das gelöst, sondern eine Wirklichkeit, die erfahren werden muss."

Fazit: Erhellende Ausführungen, von praktischem Wert.

Alan Watts
Weisheit des ungesicherten Lebens
O.W. Barth, München 2024