Trotzdem Ja zum Leben Sagen ist ein Klassiker. Und das meint: Was der Autor hier vorlegt, sind Einsichten, die nicht von der Zeit abhängen, in der sie niedergeschrieben wurden, sie haben gleichsam ewige Gültigkeit. Vor allem jedoch sind es grundsätzliche Gedanken, an denen es heutzutage, da wir in Detailproblemen ersaufen, weitgehend fehlt.
Die Autorin Ariadne von Schirach hat ein persönliches und erhellendes Vorwort zu dieser Neuausgabe verfasst, worin sie auch darauf hinweist, dass Frankl uns daran erinnere, dass das Leben an sich einen unverlierbaren Sinn habe. Ob dem wirklich so ist, weiss ich nicht, muss ich vielleicht auch gar nicht wissen, doch sich danach auszurichten, erachte ich als sinnvoll. Skeptischer bin ich heutzutage gegenüber der Aussage, der ich bis vor Kurzem vorbehaltlos zugestimmt hätte: "Doch nur wenn wir bewusst leben, haben wir wirklich gelebt." Denn die besten Momente, jedenfalls für mich, sind die, an denen ich bewusst gar nicht teilhabe, in denen ich mich selber vergesse.
Es gibt noch ein zweites Vorwort, von Hans Weigel zur Originalausgabe. "Viktor Frankl hat gelebt, was er lehrt." Überzeugender geht es kaum. Wie jeder und jede weiss, ist das selten genug.
Mein eigener, ausgesprochen positiver Bezug zu Viktor Frankl liegt vor allem seine Aussage zugrunde, gemäss der es nur zwei Rassen von Menschen gebe: Die Anständigen und die Unanständigen. Und da die Anständigen in der Minderheit seien, gelte es diese zu stärken. dann aber auch darin, dass sich seine Logotherapie/Existenzanalyse an Sinn- und Werte-Fragen orientiert.
Trotzdem Ja zum Leben Sagen handelt vom unbekannten KZler, der nur als Nummer existiert. "Und ich sage nicht ohne Stolz, dass ich nicht mehr als solch ein 'gewöhnlicher' Häftling war – eben nichts als die blosse Nr. 119 104 war." Als solcher lernt er unter anderem, die Dinge an sich herankommen zu lassen, und er erfährt, dass der Mensch sich an alles gewöhnt.
Immer mal wieder hat er im Lager erfahren, dass das Schicksal mit den Insassen gespielt hat, "erfahren, wie fragwürdig alles menschliche Entscheiden ist, und zwar gerade dort, wo es um Leben oder Tod geht", wobei er auch konstatiert, dass die Flucht nach innen, besonders für zarte Konstitutionen, nützlich sein kann. "Denn gerade ihnen steht der Rückzug aus der schrecklichen Umwelt und die Einkehr in ein Reich geistiger Freiheit und inneren Reichtums offen."
Es sind persönliche und detaillierte Schilderungen, die in der Erkenntnis gipfeln, "dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein 'So oder so'!" Und er fügt hinzu: "In letzter Sicht erweist sich das, was mit dem Menschen innerlich geschieht, was das Lager aus ihm als Menschen scheinbar 'macht', als das Ergebnis einer inneren Entscheidung."
Frankl begreift das Schicksal als Geschenk, zu dem wir uns zu verhalten haben – wir können es ablehnen oder annehmen, inklusive des Leids und der Qual. "Man denke nur nicht, dass derartige Überlegungen lebensfern oder weltfremd sind. Gewiss, solcher Höhe sind nur wenige und seltene Menschen fähig", doch sie bezeugen, "dass der Mensch innerlich stärker sein kann als sein äusserliches Schicksal, und nicht nur im Konzentrationslager."
Zentral sei es, ein Ziel zu haben; Nietzsche habe dies vielleicht am treffendsten ausgedrückt: "Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie." Doch so wesentlich diese Zielorientierung auch ist, das Mahnwort von Bismarck sollte darob nicht vergessen werden. "Im Leben geht es einem so wie beim Zahnarzt: Immer glaubt man, das Eigentliche kommt erst, und inzwischen ist es schon vorbei. Variierend könnte man sagen: die meisten Menschen im Konzentrationslager glaubten, die wahren Möglichkeiten der Verwirklichung seien nun dahin – und in Wirklichkeit bestanden sie eben darin, was einer aus diesem Leben im Lager machte: ein Vegetieren, so wie die Tausende von Häftlingen, oder aber, so wie die Seltenen und Wenigen, ein innerer Segen."
Die Frage nach dem Sinn des Lebens sollte uns leiten. Viktor Frankl stellt sie allerdings ganz anders als gemeinhin üblich: Entscheidend sei nicht, was wir vom Leben erwarten, sondern was das Leben von uns erwarte. Die rechte Antwort darauf ergebe sich "nicht durch ein Grübeln oder Reden, sondern nur durch ein Handeln, ein richtiges Verhalten, die rechte Antwort geben. Leben heisst letztlich eben nichts anders als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem Einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde."
Neben den Aufzeichnungen aus dem Konzentrationslager enthält dieses Buch auch "eine metaphysische Conférence" (Synchronisation in Birkenwald), bei der auch Spinoza, Kant und Sokrates in Erscheinung treten und sich Gedanken über die heutige Zeit (es ist 1946) machen, in der das Unglaubwürdigste die Wahrheit ist. "Und wer sie ausspricht, ist von vorneherein unzeitgemäss, und seine Rede bleibt unwirksam." Möge diesem Werk das Gegenteil beschieden sein!
Trotzdem Ja zum Leben Sagen ist ein überaus hilfreiches Buch, wesentlich und von praktischer Relevanz.
Viktor E. Frankl
Trotzdem Ja zum Leben Sagen
Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager
Kösel, München 2024