Sinngebung gehört nicht mehr zu dem, was mich wesentlich umtreibt, denn was wir als Sinn erkennen können, ist nur gerade, was unser Hirn uns vormacht. Und das ist, so weit wir wissen können, selten mehr als eine Illusion. Trotzdem macht mich dieses Buch neugierig, denn meine Einsichten haben gegen das biologisch in uns angelegte Bedürfnis nach Sinn keine Chance.
Michaela Haas schildert anhand von 108 Zitaten "aus den zwanzig beliebtesten Büchern in O.W. Barths hundertjähriger Geschichte" (offenbar handelt es sich hier um eine Auftragsarbeit des Verlages) die mannigfaltigen Erfahrungen, die sie auf ihrer eigenen Sinnsuche gemacht hat. "Es gehört für mich zu den faszinierendsten und wichtigsten Aspekten der Achtsamkeit, dass wir sie zwar zur Eigenschau nutzen, sie aber gleichzeitig das Ego schwächt. Denn wenn wir nach innen schauen, entblössen wir gleichzeitig die Essenz des Lebens, die uns mit allen anderen Lebewesen verbindet."
Weisheiten, um ihren Sinn zu entfalten, gehören gelebt. Was voraussetzt, dass sie uns erreichen. Ob und wie das geschieht, ist ziemlich rätselhaft. Mir selber geht es dabei ähnlich wie Michaela Haas. "Manchmal höre ich einen Satz erst wirklich, wenn er von Charlotte Joko Beck kommt, einer geschiedenen Mutter von vier Kindern, manchmal erkenne ich eine Einsicht erst in den Worten von Thich Nhat Hanh, dem vietnamesischen Zen-Mönch."
Viele gescheite Einsichten werden in diesem Buch zitiert, entscheidend ist jedoch, ob sie praktiziert werden. Michaela Haas lässt uns daran teilhaben, wie sie selber dabei vorgeht. So ist ihr etwa die Motivation ("Was ist das Leben, das zu führen mir aufgegeben ist?") wichtig, genau so wie die regelmässige Praxis (mindestens zwölf Minuten am Tag; wie man da drauf kommt, lesen Sie im Buch). Sie probiert vieles aus (Meditation, Yoga, Surftherapie, Qigong ...) und zitiert für mein Dafürhalten etwas arg oft sogenannte Experten (eine Journalistenkrankheit), die allerdings selten mehr sagen als mens sana in corpore sano.
Die unprätentiöse Sprache und die Offenheit der Autorin sind erfrischend. "Als ich zum ersten Mal Anapanasati im Dschungel von Thailand lernte, fand ich es ehrlich gesagt grauenvoll langweilig. Einatmen, ausatmen, immer dasselbe. Ich nutzte die Methode nach dem Retreat eine Weile, um vor dem Einschlafen meine Gedanken zu beruhigen. Heute weiss ich: Wenn ich mich langweile, ist das ein Zeichen, dass ich nicht präsent bin. Kein Augenblick gleicht dem nächsten." Kein Augenblick gleicht dem nächsten? Wunderbar! So habe ich das noch nie gesehen.
Michaela Haas ist eine höchst umtriebige Journalistin, was sich einerseits darin zeigt, dass sie sich mit sogenannt wichtigen Leuten trifft, und andererseits viele Studien zitiert, die in der Regel bestätigen, was man eh schon weiss. So ist etwa jedem und jeder geläufig, dass wir selten im Hier und Jetzt sind, und genau so, dass die Konzentration auf das, was gerade ist, geeignet ist, dem entgegenzuwirken.
Sehr schön fasst sie zusammen: "Es klingt paradox: Wir brauchen eine solide Motivation, um uns der Meditationspraxis zu widmen, aber gleichzeitig betonen Meditationsmeisterinnen die Absichtslosigkeit unseres Unterfangens. Wohin wir auch wollen, wir sind schon da." Allerdings ist das nur für unsere Art zu denken paradox, denn wenn wir genau hinschauen, erkennen wir, dass Widersprüche nur in unserem Kopf existieren.
Ganz besonders gefällt mir an diesem Buch, dass es mich immer mal wieder zum Lachen bringt. Als Jon Kabat-Zinn, den sie etwas gar ausführlich zitiert, auf Zen aufbauend seine eigene Stressreduktion entwickelt, darauf hingewiesen wurde, dass Meditation doch eine östliche Technik sei, scherzte er: "Wenn Meditation buddhistisch sei, müsse die Schwerkraft britisch sein, schliesslich habe Isaac Newton sie entdeckt." Und als ihr eine ("die vermutlich berühmteste Psychotherapeutin in London seit Sigmund Freud") mittlerweile fast Achtzigjährige ihr Erfolgsrezept für eine normale, gesunde Figur verrät ("Iss, wenn du Hunger hast. Iss, was dir guttut. Hör auf, wenn du satt bist.") kommentiert Michaela Haas: "So einfach ist das. Wenn es nur so einfach wäre."
So nachvollziehbar das (Wenn es nur so einfach wäre) ist, es ist ein Denkfehler. Anders gesagt: Wir denken zwar so (falsch), doch wir könnten auch anders denken (richtig). So sagte einmal ein über hundertjähriger japanischer Zen Meister, als er gefragt wurde, wie man denn friedlich und gelassen leben könne: Es ist ganz einfach, man muss es nur tun.
So recht eigentlich drehen sich die Ausführungen in diesem Werk wesentlich darum, sich des Lebens, so wie es ist, gewahr zu werden. Was genau damit gemeint ist, wird auf vielfältige Art und Weise und anhand ganz vieler an der Praxis orientierter Beispiele erläutert – und damit nicht nur nachvollziehbar gemacht, sondern auch eindrücklich erhellt. Aha-Momente sind garantiert.
Michaela Haas
108 Arten, dem Leben einen Sinn zu geben
Inspiriert von den grossen Weisheitslehren
O. W. Barth, München 2024
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen