Mittwoch, 25. Oktober 2023

Der grosse Rausch

Was sind eigentlich Drogen?, fragt Helena Barop in der Einleitung zu Der grosse Rausch, um dann, wie das akademisch Ausgebildete eben so tun (die Autorin, geboren 1986, studierte Geschichte und Philosophie), die übliche Komplexität aufzufahren (ja, sie hat ihre Hausaufgaben gemacht), die sie in der Folge einleuchtend und nachvollziehbar runterbricht auf: Was Drogen heute sind, bestimmt die Politik. .
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Opium, Kokain und Heroin galten einst als Medizin (für viele, die als Süchtige enden, ist das – jedenfalls am Anfang  nach wie vor so). Doch mit der Zeit begann man zu realisieren, dass diese Arzneien auch nicht gewünschte Auswirkungen haben. Viele kriegten Angst – der Grund lag in Chinatown. Wie das? Lesen Sie dieses Buch!

Obwohl Der grosse Rausch vorwiegend die Geschichte der Drogen und der Drogenpolitik aufzeigt, äussert sich die Autorin auch zum Begriff der Sucht und stellt dabei unter anderem fest, dass bei Sucht und Substanzkonsum so recht eigentlich "durchgehend mit moralischen Kategorien beschrieben, beurteilt und vermischt" argumentiert worden sei. "Bis heute schwingt diese moralische Konnotation besonders in dem Wort 'Sucht' mit." Stimmt, doch was soll daran falsch sein? Versteht ein Süchtiger seine Sucht als moralische Verfehlung, kann das sogar hilfreich sein, denn Schuldgefühle können auch motivieren. Trotz vieler Forschungen und intensivem Nachdenken darüber, weshalb der eine süchtig wird, die andere jedoch nicht, können wir nach wie vor nur rätseln – die einen informierter, die anderen weniger.

Für Helena Barop scheinen Moral und moralistisch dirty words zu sein. Für mich nicht, im Gegenteil:  Das weitgehende Fehlen von moralischen Erwägungen ist ein Kernübel unserer Zeit. Nein, nicht die bigotten Moralisten, natürlich nicht, doch dass sich die "Idee, Entziehungskuren als Sühnegelegenheit zu interpretieren" bis in die Gegenwart gehalten hat, finde ich, im Gegensatz zur Autorin, die wie jemand argumentiert, die über Sucht gelesen, diese aber nicht erfahren hat, absolut stimmig. Dass Substanzabhängigkeit vielschichtig ist und von ganz unterschiedlichen Faktoren ausgelöst wird, weiss man übrigens auch ohne Forschung.

Warum Drogen kriminalisiert werden. Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute sagt der Untertitel. Obwohl ich daran zweifle, dass es in der Geschichte eindeutige Antworten auf Warum-Fragen gibt bzw. geben kann, schält die Autorin schön heraus, wovon sich die sogenannten Drogenpolitiker haben leiten lassen. Im 19. Jahrhundert war es das "Zusammenspiel von Nationalismus, Rassismus und protestantischem Moralismus", das die amerikanische Auseinandersetzung mit dem Drogenkonsum prägte.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam in Amerika die Alkoholprohibition sowie der Harrison Act, der den Handel mit Kokain und Co unter Strafe stellte. Treffend spricht Helena Barop von Sittlichkeitsgesetzen, die darauf abzielten "das Verhalten des Individuums zu kontrollieren und die Gesellschaft zu einem möglichst sündenfreien Ort zu machen." Allerdings ist das wenig überraschend, denn unsere Rechtsordnung beruht auf christlichen Werten.

Der grosse Rausch – und das gefällt mir ganz besonders – weist auch darauf hin, dass der hedonistische Drogenkonsum der Beats in den 1950er- und 1960er-Jahren nichts anderes als das klassische kapitalistische Konsumverhalten war. "We want the world and we want it now" hiess es ein paar Jahre später. Mit anderen Worten: Suchtverhalten definiert als Mehr-Mehr-Mehr von Was-Auch-Immer ("I can't get no satisfaction") ist die Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft.

Was dieses Buch vor allem deutlich macht: Drogenpolitik orientiert sich nicht primär an den Bedürfnissen der Suchtabhängigen, sondern am reibungslosen Geschäfte-Machen. Zementiert werden sollen die bestehenden Verhältnisse, denn nichts fürchtet der Mensch mehr als Ungewissheit.

Helena Barop plädiert für eine nüchterne, faktenbasierte Drogenpolitik. Ihre am Schluss des Buches präsentierten Vorschläge sind einleuchtend – und vermutlich deswegen zum Scheitern verurteilt. Natürlich können Drogen Heilmittel sein und ist der Rausch nicht an sich böse. Nur verkennt das, weshalb der Mensch zu Substanzen greift, die er als Medizin empfindet: Weil er nicht fühlen will, was er fühlt. Weshalb das bei einigen zu pathologischem Drogenkonsum führt und bei anderen nicht, erklärt sich Helena Barop nicht nur mit der Droge, sondern auch damit, dass ein handfester Grund für den Drogenkonsum vorliegen müsse. Das stimmt zweifellos, doch wenn es wirklich so simpel wäre, müsste die Genesungsrate definitiv höher sein. Doch das wäre nochmals eine ganz andere Geschichte.

Fazit: Erhellende Aufklärung; Pflichtlektüre für Drogenpolitiker.

Helena Barop
Der grosse Rausch
Warum Drogen kriminalisiert werden
Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute
Siedler, München 2023

Mittwoch, 18. Oktober 2023

On Reasons

The other day, when returning from a Swisscom shop, I got an SMS that asked how I rated the service that I had just received. Excellent, I replied. Please explain your reasons, I was the asked. Did they need an explanation for my being content with their service? Do they have a brain? And if so, are they getting payed for not using it?

Most people seem to believe that they know why they feel the way they feel. Well, they're wrong. They haven't the foggiest idea why they feel how they feel. In any case: There are no straight answers to why-questions that relate to feelings, there are just interpretations and rationalisations respectively.

I happen to believe that reasons are completely overrated for they can only be given in hindsight. We act – and then the consciousness kicks in and tells us why we acted the way we did. However, our brain doesn't give us the real reasons (if there are any), it tells us what we are able to understand – which is amazingly little and driven by the desire that it should make sense

I do not need reasons to feel shitty, I do not need reasons to feel splendid. I'm like any other being, a flower for instance, that doesn't need a reason to blossom. It does so because this is what flowers do.

Chur, Switzerland, 5 October 2023.

Mittwoch, 11. Oktober 2023

Psychiater und Patienten

 Geisteskrankheit ist eine Krankheit. Was sonst? Aber sie befällt ein Organ, von dem wir so wenig verstehen, als würde es Marsbewohnern gehören. Abweichendes Verhalten ist wahrscheinlich bloß ein Mantra. Es verbirgt mehr, als es enthüllt. Zu den Problemen, mit denen sich der Therapeut konfrontiert sieht, gehört, dass der Patient vielleicht gar nicht geheilt werden will.

Die Ärzte scheinen ausser Acht zu lassen, mit welcher Sorgfalt die Welt der Verrückten gestaltet ist. Eine Welt, der sie, wie sie glauben, auf den Grund gehen, während sie das in Wirklichkeit natürlich nicht tun.

Kürzlich haben sich ein Dutzend Psychiater als Patienten in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen aufnehmen lassen. Es war ein Experiment. Sie sagten, sie würden Stimmen hören, und wurden sofort als schizoid diagnostiziert. Aber die anderen Insassen haben sie durchschaut. Sie haben sie angesehen und ihnen gesagt, sie seien gar nicht verrückt, sondern Reporter oder so. Und dann haben sie sie einfach stehen lassen.

Aus: Cormac McCarthy: Stella Maris

Mittwoch, 4. Oktober 2023

Masterplan Gesundheit

Mit "Den Geist jung halten und zwanzig Jahre länger leben" preist der Verlag dieses Buch an, und in mir denkt es, die Gier nach immer besser und immer mehr, macht offenbar vor gar nichts Halt. Wer, um Himmels Willen, will bloss zwanzig Jahre länger leben?! Also ich definitiv nicht. Ob sich meine Biologie davon beeinflussen lässt, ist natürlich eine ganz andere Frage. Autor Jörg Blech sieht das anders: "Je besser wir die wahren Bedürfnisse unseres Körpers kennen, umso beflügelter werden wir sein, sie ihm auch wirklich zu erfüllen."

Als der 70jährige Hirnchirurg Henry Marsh Bilder seines Gehirns auf dem Computer Monitor betrachtete, sah er eine geschrumpfte und verwelkte Version dessen, was es einstmals gewesen war. Mit anderen Worten: Wie auch immer man sich fühlen mag (und die meisten bleiben dabei sowieso in der Pubertät stecken), biologisch altern wir. Sicher, ein gesunder Lebensstil wird die Auswirkungen des Alterns verzögern. Doch ist ein langes Leben wirklich eine gute Sache? So meinte Schopenhauer: "Ein sehr langes Leben zu begehren, ist jedenfalls ein verwegener Wunsch. Denn: wer lange lebt, hat viel Leid zu ertragen, sagt das spanische Sprichwort."

 Autor und Medizinjournalist Jörg Blech ist studierter Biologe und sieht das weniger philosophisch als praktisch und wird offenbar viel gelesen. Sein Die Heilkraft der Bewegung ist ein Klassiker, wie dem Klappentext zu entnehmen ist. Kein Wunder, preist er auch im vorliegenden Buch die Bewegung – zu Recht, wie das einem ja auch der gesunde Menschenverstand sagt. Zudem ist dieses Buch vielfältig informativ, beschränkt sich nicht nur auf gute Ratschläge, sondern regt auch an, sich mit seinem Leben auseinanderzusetzen. 

Die Erkenntnisse des Autors, dem es wesentlich darum geht, wie man den Körper gesund halten kann, sind das Resümee seiner 25 Jahre als Medizinjournalist. "Das Buch ist das Fazit der wissenschaftlichen Studien zum Thema Gesundheitsprävention." Und darüber hinaus didaktisch gut aufgebaut, mit jeweils einem Zwischenfazit am Kapitelende.

"Zu Leib und Seele kursieren viele Vorstellungen, die wissenschaftlich nicht mehr haltbar sind." Das wundert nicht wirklich, ist doch die Wissenschaft (wie alles andere auch) in ständiger Veränderung begriffen. Allerdings: "Trugschlüsse und Irrtümer der Medizin sind schwer zu erkennen, weil sie einleuchtend klingen, auch von Ärzten weitergetragen werden und im öffentlichen Bewusstsein fest verankert sind." So werden etwa Patienten nach Diagnosen routinemässig zur Passivität angehalten, obwohl Aktivität der Genesung förderlich wäre.

Was kann man ändern, was nicht? Gemäss Jörg Blech, der sich dabei auf wissenschaftliche Studien beruft, können wir durch Muskeltraining das Tempo der Alterung steuern. Die Muskulatur ist nämlich sehr wandelbar. "So schnell sie bei Passivität schrumpft, so schnell erholt sie sich, wenn sie beansprucht wird." Da diese Fähigkeit zur Regeneration bis ins hohe Alter erhalten bleibt, ist es also nie zu spät, seine Muskeln zu stärken.

Ganz besonders geschätzt habe ich die Aufklärungen zum Immunsystem, weil überaus anschaulich geschildert wird, wie die Körperabwehr funktioniert, wobei auch darauf hingewiesen wird, dass man dieses einzigartige System von Schutzmechanismen noch nicht wirklich versteht. Am Rande. Erst 1989 wurde die Erkenntnis gewonnen, dass "eine Immunreaktion nicht einfach durch alles beliebige Fremde ausgelöst werden kann", wie Daniel M. Davis in Heilen aus eigener Kraft festgehalten hat.

Wer sich gesund ernähren will, sollte vor allem den Zucker meiden wie auch ultraverarbeitete Nahrung. Und da man wegen der leicht verdaulichen Kohlehydrate auch auf Kartoffeln, Reis, Nudeln und Brot verzichten sollte, kann man sich schon fragen, was man eigentlich noch essen darf, sofern man schlank und rank bleiben will. "Statt Medizin zu nehmen, faste heute lieber!", riet bereits Plutarch; man kann sich allerdings auch von der Zeitfenster-Methode ("Man beschränkt das Essen auf ein Zeitfenster von sechs bis maximal zwölf Stunden pro 24-Stunden-Zyklus.") anleiten lassen. "Im erlaubten Zeitfenster darf man so viel essen, wie man will – trotzdem wird man dünner."

Übrigens: Fette werden zu Unrecht verteufelt, Junkfood macht süchtig, Übergewicht ist ein Risikofaktor, Gesund durch Zuversicht ....Masterplan Gesundheit lässt nichts aus. Doch Achtung: "Das Buch ersetzt keinen Besuch in der Praxis und kein beratendes Gespräch mit einem Arzt/einer Ärztin. Autor und Verlag übernehmen deshalb keinerlei Haftung für Schäden irgendwelcher Art, die sich direkt oder indirekt aus Nutzung, Übernahme und Verwendung der im Buch enthaltenen Informationen ergeben. Im Zweifelsfall holen sie sich bitte vorher ärztlichen Rat", informiert der Verlag.

Fazit: Ein nützliches Buch, das hilft, beim nächsten Arztbesuch gute Fragen zu stellen.

Jörg Blech
Masterplan Gesundheit
Was Körper und Geist brauchen, um lange jung und fit zu bleiben
DVA, München 2023