Mit 365 Freud-Zitaten durchs Jahr, kommentiert von 280 Autoren, Frauen und Männen, die jeweils ihre eigene Lesart vorstellen. Dieses Werk beginnt mit dem ersten Satz von Freuds erster wissenschaftlicher Arbeit, die von den Geschlechtsteilen des Aals handelt, und deren Schussfolgerung von Herausgeber Kai Rugenstein als eigentliche Tugend des späteren Sexualforschers Freud bezeichnet wird: "Das Rätselhafte, Unauffîndbare und Unverständliche auszuhalten und nicht durch vermeintlich sichere Gewissheiten zum Verschwinden zu bringen."
Ein höchst gelungener Einstieg, der kurz darauf von ebenso ansprechenden Ausführungen von Eva Illouz fortgeführt wird, die sich zu Freuds Auffassung, dass das Leben ohne Linderungsmittel nur schwer zu ertragen sei, äussert und meint, dass er über die Ideologie der positiven Psychologie und der positiven Emotionen entsetzt gewesen wäre. "Er verortete das Problem des Leidens in unseren Seelen, wusste aber zugleich, dass das Leben, also die objektive Welt, stets zur Stelle ist, um uns zu enttäuschen, zu betrügen und zu verletzen (...) Freud tröstete nicht. Er forderte einen erbitterten Kampf gegen unsere Dämonen und Selbsttäuschungen."
Für jemanden wie mich, der mit Freud nur ganz oberflächlich bekannt ist, ist zugleich verblüffend und bereichernd, wie lebenswesentlich seine Einsichten sind. Etwa über das Unbewusste: "Das Unbewusste ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Aussenwelt, und uns durch die Daten des Bewusstseins ebenso unvollständig gegeben wie die Aussenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane." Ach, wie wünschte man sich doch, solche nüchterne Bescheidenheit wäre den zumeist von Wunschdenken und monetären Interessen geprägten modernen Therapeuten geläufig.
Ganz unterschiedliche Autoren kommentieren eine beeindruckende Breite von Themen. Besonders erwärmte ich mich für die Ausführungen von Nuar Alsadir zur freien Assoziation, Marina D'Angelos "Reise als ungekrönter König", worin sie auch Freuds Phantasie erwähnt, "sich der Ausgrabungstätigkeit und der Archäologie zu widmen" sowie die Selbstauskunft Michael Krügers anhand von Freuds Bekenntnis "Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst."
Es versteht sich: Über jemand anderen zu schreiben, bedeutet auch immer über sich selbst Auskunft zu gehen. Wie könnte es auch anders sein? Schliesslich kennt man nur sich selbst – und überdies höchst unzureichend. Wenn also Peter von Matt Freuds Bemerkung über den Krieg ("unser Triebleben in seiner Nacktheit") als schwierig begreift, beschreibt er damit eher sein Verhältnis zu diesem Satz und weniger den Satz, der überhaut nicht schwierig ist, sondern ausgesprochen deutlich benennt, was der Krieg blosstellt. Svenja Flasspöhler äussert sich dagegen erfrischend deutlich: "Der Krieg gibt diesen Bedürfnissen ('die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind') Raum – und zwar in ihrer ganzen, nackten Brutalität."
Obwohl viele Zitate in diesem Buch so recht eigentlich keiner Kommentierung bedürfen – etwa: "Die Absicht, dass der Mensch 'glücklich' sei, ist im Plan der 'Schöpfung' nicht vorgesehen."; oder: "Das Gehörthaben und das Erlebthaben sind zwei nach ihrer psychologischen Natur ganz verschiedene Dinge, auch wenn sie den nämlichen Inhalt haben." – , liest man die Überlegungen dazu trotzdem mit Gewinn. So antwortet zum Beispiel Nikolas Heim auf die Frage, wie emotionale Einsicht zu erlangen sei. "Indem der Therapeut sich anders verhält als der Patient es unbewusst erwartet, wird so ein Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten bzw, eine emotional-korrigierende Erfahrung ermöglicht."
365 x Freud bietet viel Erhellendes. So befindet etwa Otto F. Kernberg unter Bezugnahme auf Freuds 'Unbehagen in der Kultur': "Unsere Wertsysteme sind eine schwache Verteidigung gegen die menschliche Aggression." Und Olivia Laing, die sich mit 'Homo hominis lupus' auseinandersetzt, führt aus, dass es Freud nicht gegeben war. "sich die vorgefundene Realität irgendwie zu versüssen." Und Jonathan Franzen weist darauf hin, dass Freud gezeigt hat, "dass es für die 'conditio humana' kein Heilmittel gibt." Zu dieser gehört übrigens, "dass wir grundsätzlich weniger wissen als wir zu wissen glauben."
365 x Freud ist auch ein ernüchterndes Werk – und Ernüchterung befreit. So riet uns Freud, laut Joel Whitebook, "unsere grundsätzliche Bedeutungslosigkeit zu akzeptieren, unseren Wunsch nach Trost aufzugeben und uns der Ananke hinzugeben, der harten Realität. Mehr noch: Er verbindet mit alldem auch die kontraintuitive Behauptung, dass die Übernahme dieser trostlosen Perspektive nicht nur emanzipatorisch sei, sondern auch dem Wohlergehen der Menschen diene."
Fazit: Anregend, aufschlussreich und wesentlich.
365 x Freud
Ein Lesebuch für jeden Tag
Herausgegeben von Tobias Nolte und Kai Rugenstein
Klett-Cotta, Stuttgart 2022
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