Mittwoch, 28. Dezember 2022

Über Borderline & Therapie

Otto Kernberg gilt zusammen mit Marsha M. Linehan als führende Autorität der Borderline-Störung. Was die beiden denn auszeichne, wurde John G. Gunderson, selber eine einschlägige Autorität, gefragt. Sie hätten beide charismatische Ausstrahlung und verkörperten Zuversicht, Klarheit, Kraft und Sicherheit, erwiderte er. Daran fühlte Tim sich erinnert, als er las, was Kernberg als die Kriterien definiert, die einen guten Psychotherapeuten ausmachen: 'Wissen, Ehrlichkeit, authentische Wärme, Interesse für Menschen, Empathie und die Fähigkeit, sich anzupassen, und die eigenen Fehler zu erkennen und von ihnen zu lernen.'

All das hatte Sara, dachte er. Und dass sie in ihrem Job viele Illusionen verloren hat, trägt auch dazu bei, die Welt und die Menschen realistisch zu sehen. Man könne nicht auf der Welt sein, ohne zu leiden, hatte sie ihm einmal gesagt. Sie stellte es einfach fest, ohne Bedauern. Und fügte dann hinzu, dass es zwischendurch aber eben auch immer temporary relief gebe, mehr sei nicht drin, das müsse genügen. Ihm hatte das mehr als nur eingeleuchtet, er empfand beim Gedanken daran auch eine angenehme Leichtigkeit.

Hans Durrer: Auf der Flucht vor dem Augenblick, neobooks, 2022

Mittwoch, 21. Dezember 2022

Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn

Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn schildert die Gedankengänge und Empfindungen des siebzigjährigen Harry, der in seinen alten Texten liest und dabei vor allem ernüchternde Entdeckungen macht – es ist eine philosophische und selbstironische Auseinandersetzung mit den Welträtseln, der Suche nach Sinn und unserem Bedürfnis nach Orientierung.

Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn ist gleichzeitig Reiseerzählung, Essay und Tagebuch. Szenen aus der Wirklichkeit wechseln ab mit Erfundenem. Gedankensplitter, Zitate, Beobachtungen von vor zwanzig Jahren und aus der Gegenwart stehen neben- und hintereinander, in verschiedenen Sprachen, ohne Kontext, ganz so wie das eben im richtigen Leben auch der Fall ist, in dem einem gleichzeitig alles Mögliche durch den Kopf geht. 

Grosse Teile handeln von Harrys Erlebnissen in Brasilien, Südostasien und China, wo die Menschen, entgegen seinen Erwartungen und Hoffnungen auch nicht besser zu leben wissen als im vertrauten Europa.

Nichts geht auf, alles ist im Fluss, Bedeutungsvolles und Gescheites steht bequem neben Banalem und Komischem. Im schlechtesten Fall, so Harrys Erkenntnis, dreht man durch, im besten Fall lernt man das Leben leicht zu nehmen.

Hans Durrer
Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn
Ansichten und Einsichten
neobooks, München 2019

Mittwoch, 14. Dezember 2022

Von den Erwartungen

Lange nicht gesehen! Wie geht es Dir?“, fragt mich mein Bekannter. „Es gibt zwei Antworten darauf“, antworte ich, obwohl es natürlich noch ganz viele mehr gäbe. „Die erste: Ich bin total frustriert; die zweite: ich habe immer mal wieder Super-Momente.“ Mein Bekannter zeigt sich ob der ersten Antwort bestürzt, die zweite scheint ihn nicht zu interessieren. „Frustriert?! So kenne ich Dich gar nicht, auf mich wirkst Du überhaupt nicht so. Wieso frustriert?“ „Weil so ziemlich alles im Leben nicht so ist, wie es meiner Meinung nach sein sollte.“ „Geht es auch konkreter?“ „In meiner Vorstellung sollten die Anständigen an der Spitze stehen, in der Realität ist das überhaupt nicht so. Auch finde ich, dass Lügner und Inkompetente aus dem Amt gejagt werden sollen, doch auch das ist nicht der Fall.“ „Du scheinst ganz unrealistische Vorstellungen von der Welt zu haben“, sagt mein Bekannter, der glaubt, sein Direktorengehalt sei seinen Fähigkeiten geschuldet.

Doch wie gesagt: Ich habe immer mal wieder Super-Momente. Sie treten meist dann ein, wenn ich meine Erwartungen vergessen habe, wenn ich nicht denke, wenn ich einfach wahrnehme, was ist. Doch kann man seine Erwartungen eigentlich vergessen? Nur für Momente, denn unser Gehirn ist antizipierend eingestellt, ist also immer schon bei dem, was kommt oder kommen könnte, es flieht das Hier und Jetzt.

Seit ich das Fotografieren entdeckt habe, gehe ich anders durch die Welt. Aufmerksamer. Letzthin, in Marseille, in einer engen Gasse entdeckte ich am Himmel über mir ein Stück Stoff, das sich in Stromleitungen verfangen hatte und nun vom Wind durch die Luft gewirbelt wurde, so dass immer wieder neue, nicht vorherzusehende Formationen entstanden. Ich blieb stehen und versuchte das Schauspiel mit meiner Kamera einzufangen. Jede Aufnahme zeigte one moment in time, mein Fotografieren wurde zur Meditation – ich tat, was ich tat, nicht mehr, nicht weniger, nur gerade das.

Die meiste Zeit gehe ich jedoch mit einer mir selten bewussten Erwartungshaltung durch die Gegend. So erwarte ich etwa, dass wenn ich jemanden anständig behandle, mir ebenfalls anständig begegnet wird. Auch erwarte ich, dass ich nicht angelogen werde, dass die Menschen sagen, was sie denken, dass diejenigen, die die Steuerzahler viel Geld kosten, sich ihres Amtes fähig und würdig erweisen. Meines Erachtens sind dies absolut berechtigte Erwartungen, doch meine Erfahrung zeigt, dass ihnen eher selten entsprochen wird.

Das liegt unter anderem daran, dass unsere Kultur von uns verlangt, Heuchler zu sein. Das ist notwendig, um „unser“ System, das im Kosten-Nutzen-Denken gefangen ist, am Laufen zu halten. Gibt es eigentlich etwas Fantasieloseres als alles unter dem Aspekt von Kosten und Nutzen zu betrachten? Sollte es im Leben darum gehen, möglichst an dem Wunder teilzuhaben, dass wir für eine gewisse Zeit auf diesem Planeten unterwegs sein dürfen, dann eher nicht.

Mittwoch, 7. Dezember 2022

Inspirationen für ein anderes Leben

Felicitas von Aretin porträtiert in diesem Werk 21 Ordensfrauen. Katholische, evangelische, buddhistische und orthodoxe. Bei der Vorbereitung ihrer Reise durch deutsche und österreichische Klöster lernte sie, "dass im richtigen Moment stets das Richtige passiert, wenn die innere Bereitschaft stimmt." Damit diese stimmen konnte, musste sie zuallererst loslassen von ihren Prägungen. "Mit Ordensfrauen hatte ich während meiner Gymnasialzeit hinlänglich schlechte Erfahrungen gemacht und eine Mischung aus Intoleranz und Ignoranz erfahren. Gläubigkeit vermittelte sich für mich daraus ebenso wenig, wie sie mich überzeugte."

Die Autorin leitet das Münchner Büro der Agentur für History Marketing hpunkt kommunikation. Kein Wunder also, findet man viel Geschichtliches in diesem Buch – etwas arg viel für meinen Geschmack, denn ich habe keinen Bezug dazu und finde nicht wirklich relevant, wer was wo gesagt hat; für mich sind das zumeist recht willkürliche Zuschreibungen und überdies unwesentlich, jedenfalls für mein Weltbild.

Starke Schwestern ist gut geschriebener, solider Journalismus, der mich immer mal wieder Verblüffendes lehrt. So war mir überhaupt nicht geläufig, dass viele Benediktinerinnen halbtags "als Juristin, Sozialarbeiterin, EDV-Spezialistin, Lehrerin oder Ärztin und Krankenschwester tätig" sind und bei persönlichen Krisen einen Therapeuten oder eine Therapeutin aufsuchen. Auch dass es im Konvent nicht darum geht, "befreundet zu sein, sondern eine verbindliche Lebensgemeinschaft aller Generationen und Charaktere zu leben", wie eine Äbtissin erläutert, war mir neu  und einleuchtend.

 Ganz unterschiedlich sind die Einsichten, die Felicitas von Aretin vermittelt. So berichtet sie etwa über  den Generationenkonflikt in manchen Konventen  wie auch darüber, dass Ordensschwestern  von Klerikern missbraucht wurden und werden. Aber auch zur Architektur äussert sie sich: "Wer die langen, geräumigen Flure entlang geht, dessen Seele und Geist kommen zur Ruhe und der erlebt Geborgenheit", notiert sie über ein Karmelitinnen-Kloster. Meine eigene Erfahrung in einem ungarischen Karmelitinnen-Kloster, das heute als Hotel und Begegnungsstätte fungiert, war genauso. 

So vielfältig und aufschlussreich dieses Werk auch ist, die spirituellen Anregungen, die ich mir erhoffte, kommen zu kurz. Wobei: es gibt sie durchaus. Etwa: "Gott entdecke ich in jedem Sonnenstrahl, in jedem Wassertropfen, wie in einem inneren Gebet." Oder: "Stundenlange Meditationen hebeln unser Denken völlig aus." Doch in der Hauptsache ist Starke Schwestern eine informative Bestandesaufnahme vom Leben in Frauenklöstern in Deutschland und Österreich.

Ganz unterschiedliche Frauen entscheiden sich für ein Leben im Kloster. Da gibt es die Mutter mit fünf Kindern, die mit Ende fünfzig eintrat, da ist die Fachkrankenschwester, der schon als Kind klar war, dass sie einmal ein geistliches Leben führen würde, da ist die einstige Marxistin, die sich vom Christentum loslöst und sich dem Zen-Buddhismus zuwendet.

Das Klosterleben hat sich vielerorts gewandelt. Heutzutage werden Meditations- und Achtsamkeitskurse angeboten, leben Schwestern in Wohngemeinschaften mit jungen Frauen, arbeiten einige halbtags im Krankenhaus. Starke Schwestern ist auch mit einem überaus nützlichen Glossar, einem Personenverzeichnis, in dem sowohl Katharina von Siena als auch Thich Nhat Hanh zu finden sind, als auch einem anregenden Literaturverzeichnis versehen.

"Nichts scheint dem menschlichen Geist fremder als das Innehalten", so Felicitas von Aretin in ihrem Fazit. Aufgegangen ist ihr bei ihrer Reise von Kloster zu Kloster auch dies: "Regelmässiges Fasten, Beten und Meditieren tragen offenbar ebenso zum seelischen Wohlbefinden bei wie Loslassen und der Verzicht auf materielle Güter, Karriere und Leistung." Ein solcher Weg verlangt beharrliches Üben; nur wenige gehen ihn.

Felicitas von Aretin
Starke Schwestern
Klosterreisen – Inspirationen für ein anderes Leben
Herder, Freiburg Basel Wien 2022