Seit ich mich vor zwanzig Jahren einer Hirnoperation unterzogen habe, habe ich einige Bücher über das Gehirn gelesen, zuletzt dieses. Trotzdem ist mir die Funktionsweise des Gehirns nach wie vor ein Rätsel, und so mache ich immer wieder einen neuen Anlauf, um etwas besser zu verstehen, was da in meinem Oberstübchen abläuft.
Mein erster Eindruck von Iris Sommers Gehirn, weiblich: Das liest sich verständlich. Dazu kommt: Der Untertitel Unterschiede wahrnehmen, Stereotype überwinden zeigt die Stossrichtung an – und die ist mir sympathisch, denn sie verspricht ein genaues, nicht von Ideologie getränktes Hinschauen.
Dass wir von Gefühlen und nicht von der Vernunft regiert werden, ist für mich keine Diskussion wert. Doch Gefühle lassen sich bis zu einem gewissen Grad steuern, zum Beispiel durch Informationen. Sofern man bereit ist, sich von Fakten – ob sie uns passen oder nicht – leiten zu lassen.
Fakt ist: "Das Gehirn einer Frau ist im Durchschnitt deutlich kleiner als das eines Mannes." Fakt ist auch, "dass die Lebern und Herzen von Frauen und Männern keineswegs identisch ist." Ich finde es sehr beruhigend, dass Kardiologen und Pharmakologen dem Rechnung tragen.
Je grösser, desto besser? Je grösser das Gehirn, desto intelligenter? Ja und Nein, denn ein kleineres Gehirn ist imstande ebenso viel zu leisten wie ein grösseres. Denken Sie an amerikanische und europäische Fahrzeuge – die amerikanischen sind um einiges grösser, doch sind sie auch besser? Solche und ähnliche Hinweise finden sich in diesem aufschlussreichen Buch.
Iris Sommer, Professorin für Psychiatrie am Universitätsklinikum Groningen, macht deutlich, dass neben den genetischen Faktoren auch Umgebung und Erfahrung den IQ und die Gehirngrösse beeinflussen. So wächst zum Beispiel das Gehirn, wenn man eine anspruchsvolle Ausbildung durchläuft oder sich mit komplexen Problemen auseinandersetzt. Anders gesagt: Intelligenz lässt sich trainieren.
Wie von akademisch Lehrenden nicht anders zu erwarten, zitiert Iris Sommer ganz viele Studien, die über ganz Unterschiedliches Aufschluss geben. Zu den für mich faszinierendsten gehört, wie sich bestimmen lässt, über wie viele Nervenzellen unser Hirn verfügt – im Durchschnitt etwa 83 Milliarden. Und die kann man wirklich zählen? Kann man. Eine Gruppe von Neurowissenschaftlern in Rio de Janeiro, angeführt von Suzana Herculano-Houzel, hat gezeigt wie das geht.
Besonders spannend fand ich, dass sich funktionale Netzwerke identifizieren lassen. "Das bekannteste Netzwerk ist das Default-Mode-Netzwerk (DMN). Es ist aktiv, wenn wir nichts Besonderes tun und unseren Gedanken freien Lauf lassen." Mit anderen Worten: Das DMN ist unser Autopilot, der immer dann zum Einsatz kommt, wenn die anderen Netzwerke (etwa das visuelle Netzwerk, das kognitive Kontrollnetzwerk, das auditive Netzwerk oder das sensomotorische Netzwerk) zur Ruhe kommen. "Je besser man zwischen der Aktivität des DMN und der Aktivität der anderen Netzwerke hin und her wechseln kann, und je weniger es dabei zu Überschneidungen kommt, desto effizienter nutzt man sein Gehirn." So einleuchtend das ist, mich selber faszinieren und irritieren die Überschneidungen mehr.
Gehirn, weiblich informiert zwar hauptsächlich über das Gehirn und seine Funktionsweise, befasst sich jedoch auch mit der Frage, wie man Stereotype überwinden kann. Das ist weit schwieriger als man sich das gemeinhin vorstellt, denn der Mensch will sich nun mal nicht ändern, ausser er muss. In Sachen Gender meint das: "Wir mögen es nicht, wenn sich ein Mann oder eine Frau nicht genderstereotyp verhält." Was nicht heisst, dass alles beim Alten bleiben soll. "Immer mehr Menschen haben den Mumm, von ihrer stereotypen Genderrolle abzuweichen. Frauen, die darauf pfeifen, ob man sie als Schreckschraube bezeichnet, und Männer, die es prima finden, ein Softie zu sein." Noch schöner wäre allerdings, wenn der Mensch generell nicht so viel darauf geben würde, was andere denken und sagen.
Fazit: Gut geschriebene, nützliche Aufklärung.