Familie Galvin, Vater Don, zuerst beruflich erfolgreich bei der Air Force, dann als „eine Art innerstaatlicher Diplomat“, Mutter Mimi, ausgelastet mit 10 Buben und zwei Mädels. Sechs der zehn Brüder wurden bis Mitte der 1970er-Jahre mit Schizophrenie diagnostiziert. Der Journalist Robert Kolker erzählt mit Hidden Valley Road nicht nur eine Familien-, sondern auch eine Medizingeschichte.
12 Kinder! Was bewegt ein Paar, so viele Kinder zu haben? Natürlich kann man das nicht wirklich wissen – nicht einmal die Beteiligten können das, schliesslich sind wir Menschen viel zu komplex, um zu verstehen, was uns so oder anders ticken lässt – , doch Robert Kolker tut, was gute Journalisten tun: Er liefert eine plausible Erklärung (wahrscheinlich ein Ausweichmanöver, um sich den schmerzlichen Enttäuschungen in ihrem Leben nicht stellen zu müssen) und präsentiert gleichzeitig die Einschätzung der nicht gerade wohlmeinenden Schwiegermutter (es sei Mimis Methode im Wettstreit mit Don die Oberhand zu haben).
Charakteristisch sowohl für Don als auch für Mimi war, dass sie Unangenehmes generell einfach ausblendeten. Als ihr ältester Sohn wegen seines bizarren Verhaltens psychiatrisch untersucht wurde, machten sie in Zweckoptimismus, wobei sie ein psychiatrischer Freund unterstützte, der allerdings unzureichend informiert war. Und als die Frau des Zweitältesten sie mit dem gewalttätigen Verhalten ihres Stimmen hörenden Sohnes konfrontierte, erlebte sie Eltern, die nicht bereit waren, die Realität zu akzeptieren. Es gab viele heftige Streitereien, Gewalt und Missbrauch in ihrem Haus an der Hidden Valley Road, auch die Polizei tauchte öfters auf – wahrhaben wollten sie das nicht. Trotzdem kümmerten sie sich, vor allem Mimi, sehr um die Kinder.
Die damalige Psychiatrie war unter anderem charakterisiert durch den Streit (und nachfolgenden Bruch) von Freund und Jung. Für Freud waren seelische Erkrankungen das Resultat prägender (und oft sexueller) Kindheitserlebnisse, Jung hingegen war der Auffassung, dass „das Konzept der Libido durch einen genetischen Faktor ergänzt werden“ müsse.
Anlage oder Einfluss der Umwelt? Diese Frage prägt unter anderem die Schizophrenie, die natürlich auch eine Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Theorien bildet. Wobei: Ich frage mich schon wie man jemanden wie Jacques Lacan, der zum berühmt gewordenen Fall Schreiber meinte, „Schreibers Probleme seien seiner Frustration darüber entsprungen, nicht der Phallus sein zu können, der seiner Mutter gefehlt habe“, eigentlich ernst nehmen kann.
Wie alles, so hat sich auch die Vorstellung, was denn Schizophrenie eigentlich ist bzw. sein soll, im Laufe der Zeit gewandelt. Und so recht eigentlich sagen die Definitionen mehr über das vorherrschende Denken der jeweiligen Zeit als über die Krankheit. Dazu kommt, dass die Diagnosestellung mehr Kunst als Wissenschaft ist.
Die zentrale Frage lautet: Wie kann es sein, dass sechs von zwölf Kindern eine Schizophrenie entwickeln, die anderen sechs aber nicht? Eine genetische Vorbedingung scheint definitiv gegeben, muss aber offenbar nicht notwendigerweise vererbt werden. Wie konnte das sein? Hidden Valley Road ist auch eine spannende Psychiatrie-Geschichte.
Nachdem einer ihrer Söhne seine Freundin und sich selber umgebracht, und weitere Söhne in der Psychiatrie landeten, begannen sich auch die Eltern Fragen zu stellen. War es vielleicht jeweils ein emotionaler Schock gewesen, der die Brüder aus der Bahn geworfen hatte? Lag es an den Drogen, der Gegenkultur, am Missbrauch durch einen Priester? „Es war traurig festzustellen, dass, als der Patient zunehmend provokativ wurde, dies die Familie offenbar für seinen Normalzustand hielt“, notierte ein Arzt.
Dieses Buch schildert ganz Vieles in Einem: Ein aussergewöhnliches und tragisches Familienschicksal, die Bemühungen und Hilflosigkeit der Psychiatrie, die Forschung der von Marketing-Erwägungen dominierten Pharmaindustrie, das Amerika zur Zeit der Gegenkultur, und und und … , doch insbesondere die Unfähigkeit des Menschen, einen ernsthaften, ehrlichen Blick auf das eigene Leben zu werden. Ob letzterer im vorliegenden Falle geholfen hätte, weiss man nicht, doch dass darauf zu verzichten keine Option ist, zeigt dieses gut geschriebene Buch eindrücklich.
Fazit: Aufwühlend, faszinierend und überaus lehrreich.
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