Jarvis Jay Masters sitzt wegen mehrerer Straftaten hinter Gittern, als ihm auch noch der Mord an einem Gefängniswärter, den er nicht begangen hat, angehängt wird. Er erhält Besuch von der Kriminalistin Melody Ermachild, die von der Verteidigung beauftragt worden ist, die Umstände, in denen er aufgewachsen ist, ausführlich zu dokumentieren. Sie regt ihn an, zu meditieren, teilt mit ihm die Anregungen ihres eigenen Meditationslehrers. „Wenn ihn Angst überkam und er sich an den Rat des Meditationslehrers erinnerte, dass Angst nichts als ein Gedanke sei und ihm nicht schaden könne, wurde sie schwächer.“
Er wird zum Tode verurteilt. Und so recht eigentlich, denkt es so in mir, sind wir alle zum Tode verurteilt. Im Gegensatz zu uns, die wir angesichts unseres Schicksal nichts tun bzw. im gewohnten Trott weitermachen, wird Jarvis aktiv. „Jarvis‘ selbst auferlegtes Training begann jeden Tag mit zwei Stunden Meditation, gefolgt von Körperübungen. Er notierte seine Fortschritte in einem Kalender, den er selbst gefertigt hatte: 400 Rumpfbeugen, 500 Liegestütze, 500 oder mehr Liegestützsprünge und das Ganze noch einmal. Danach lief er in seiner Zelle 520 Mal hin und her. Das ergab eine Meile. Anschliessend rannte er auf der Stelle …“.
Im Buch eines buddhistischen Lama liest er, dass sich im Tod der Körper vom Geist trenne und es daher wichtig sei, sich darauf vorzubereiten, damit man nicht „von einem grossen Wirbel der Angst, Orientierungslosigkeit und Verwirrung fortgerissen“ werde. Und er lernt, dass sowohl Angst wie auch Trauer „einzig und allein in Ihrem Geist“ existieren.
Er habe Glück, im Knast zu sein, schreibt ihm der Lama. Jarvis reagiert ungehalten, doch der Lama lässt sich nicht umstimmen, im Gegenteil. „Vielleicht sehen Sie es nicht, aber Ihr Glück besteht darin, an einem Ort zu sein, wo Sie das menschliche Leid so direkt erfahren. Dadurch können Sie verstehen lernen, dass alle lebenden Wesen einschliesslich Ihrer selbst bereits vollkommen sind. Lernen Sie, dies zu sehen!“
Erst wenn wir aus der Bahn geworfen werden, erst wenn die Dinge nicht so laufen wie wir es gewohnt sind, eröffnet sich die Möglichkeit einer Veränderung. Allmählich beginnt Jarvis zu realisieren, dass das Todesurteil, das seinen Tod bedeuten konnte, ihm das Leben geschenkt hatte.
Melody ermuntert ihn zu schreiben, seine Texte werden veröffentlicht, er lernt Pema Chödrön, eine buddhistische Nonne, kennen, die ihm klar macht, „dass man die Dinge, mit denen man zu kämpfen hatte, eben nicht hinter sich lassen sollte (…) dass Schmerz, Trauer und Verzweiflung nützlich seien, da man von ihnen lernen könne.“ Auch weist sie ihn darauf hin, dass es bei all den Geschichten, die wir uns erzählen, Pausen gibt, „und das ganz einfach deswegen, weil unser Geist so funktioniert.“ Diese Pause ist eine Chance, es gilt sie zu nutzen, „und sich zu sagen: ‚Jetzt bin ich wieder in dieser alten Geschichte.‘ Genau das ermöglicht es uns, diese loszulassen und sich wieder auf den Atem zu konzentrieren.“
Nicht nur bei der Meditation ist es wichtig, sich dieser Pausen gewahr zu werden – auch im Alltag ist es sinnvoll, immer mal wieder innezuhalten und sich die Zeit zu nehmen, um zu bedenken, was man eigentlich fühlt, denkt und tut. „Es gab nicht viel in seinem Leben, auf dass er einen Einfluss hatte, doch seinen Geist konnte er tatsächlich kontrollieren.“ Schwierig? Sowieso. Doch es lässt sich üben.
Jarvis Jay Masters‘ Geschichte, die David Sheff in diesem Buch erzählt, ist vor allem ein Lehrstück darüber, wie man in einer hoffnungslosen Lage nicht verzweifelt. Nicht in dem man hofft, sondern indem man sich grundsätzlich mit seinem Dasein auseinandersetzt. Es gilt nichts zu überwinden oder hinter sich zu lassen. Es gilt das Leben so hinzunehmen wie es ist – chaotisch, unbegreiflich, und staunenswert.
Gefangen und Frei ist ein überaus hilfreiches Buch.
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