Dienstag, 27. Juli 2021

Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern

Machen wir eigentlich jemals etwas anderes als Pläne?, fragt sich der Ich-Erzähler Gregor, ein sensibler Besserwisser, dessen Leben aus nichts anderem zu bestehen scheint. Die vorliegende Collage, in der sich Aufenthalte in fremden Kulturen mit Überlegungen zur Sucht, zur Fotografie und zum Loslassen abwechseln, berichtet vom Festklammern an der Idee, das Leben sollte gefälligst so sein, wie man das gerne hätte.

Pläne Machen, Sucht und Fotografie, wie geht denn das zusammen? Alle drei sind so recht eigentlich nichts anderes als der Versuch, Halt und Orientierung im Leben zu finden. Wir klammern uns an unsere Pläne, die uns die Illusion der Kontrolle verschaffen, an unsere Süchte, die uns vor unseren Gefühlen schützen und an die moments in time, von der uns die Fotografie glauben lässt, dass es sie gibt.

Gregors Pläne ist ein fiktives Werk, das einerseits von der Suche nach der idealen Arbeitsstelle berichtet, und sich andererseits mit der Frage auseinandersetzt, ob wir mit unserem beständigen Streben nach Stabilität und Sicherheit nicht einer grandiosen Illusion aufsitzen, die so recht eigentlich ein veritabler Selbstbetrug ist.

Sich wirklich aufs Leben einzulassen, dies die Folgerung aus Gregors Monolog, bedeutet loszulassen, von allem, inklusive unserer Vorstellungen und Ideale. Doch wollen wir das? Und falls ja, wie geht das? The readiness is all sagt Horatio in Hamlet.

Hans Durrer

Gregors Pläne
Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern
neobooks, München 2021

Mittwoch, 21. Juli 2021

Körperzeiten

Werner Bartens, geboren 1966, hat Medizin, Geschichte und Germanistik studiert und arbeitet als leitender Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. In seinem neuesten Buch Körperzeiten verspricht der Untertitel Wie wir im richtigen Moment das Richtige tun und besser lernen, lieben und leben eine Verbesserung der Lebensqualität. Sein Ansatz dabei: Entscheidend ist nicht so sehr, wie wir die Dinge tun, sondern wann.

Diese Herangehensweise setzt natürlich voraus, dass es die Zeit auch wirklich gibt. Die nordamerikanischen Indianer (jedenfalls die in Süd Dakota) bezweifeln das; ich selber scheine eine immerwährende Gegenwart zu erleben. Auf der praktischen Alltagsebene scheint es sich jedoch mit der Zeit so zu verhalten, wie Einstein einmal unser Verhältnis zur Realität definiert hat: Sie mag eine Illusion sein, doch eine erstaunlich beständige.

Die Zeit ist ein Terrorist, pflegte mein ehemaliger Zahnarzt (damals bereits über neunzig) zu sagen. Daran musste ich denken als ich bei Werner Bartens las, wie vielfältig sie uns unter Druck setzt und unser Leben bestimmt. Sofern wir uns das gefallen lassen, will ich sofort hinzufügen. Es geht also darum, "sich nicht als wehrloses Opfer der Umstände zu sehen, sondern den Handlungsrahmen auszuschöpfen, den man hat. Und der ist häufig erstaunlich weit gefasst, in freien, demokratischen Gesellschaften sowieso", behauptet der Autor. Arbeitgeber sehen das auch so, Arbeitnehmer eher weniger.

Vielfältig angespannt geht der moderne Mensch durchs Leben. Die Zeit, um auf sich selbst zu hören, fehlt den meisten. Dass das nicht gesund ist, geschweige denn gut tut, ist allgemein bekannt, weshalb man denn in Seminaren und Workshops lernt, dass es nicht nur gut ist, ab und zu eine Pause einzulegen, sondern dass sich das auch auszahlt. Mit ein wenig Selber-Denken, könnte man sich die Kurskosten sparen.

Die Magie des Augenblicks ereignet sich so recht eigentlich immer ungeplant und meist unverhofft. Dass es trotzdem empfehlenswert ist, seine Aufmerksamkeit zu steuern, macht Werner Bartens an ganz vielen Beispielen deutlich. Dabei erfahre ich auch, dass die Diagnose ADHS (von der ich eh noch nie viel gehalten habe) von einem erfahrenen Therapeuten so kommentiert wird: "Die meisten Kinder mit dieser Diagnose haben gar kein Aufmerksamkeitsdefizit. Die Aufmerksamkeit der Kinder ist nur nicht dort, wo sie Eltern und Kinder gerne hätten."

Körperzeiten ist ein vielfältig anregendes Buch, doch wer sich davon versprochen hat, was der Untertitel verspricht, nämlich Wie wir im richtigen Moment das Richtige tun und besser lernen, lieben und leben, der wird vermutlich enttäuscht sein. Wer hingegen gerne einem talentierten Geschichten-Erzähler zuhört, der viel Lehrreiches zu berichten weiss, trifft auf eine hilfreiche und oft amüsante Fundgrube. So berichtet der Autor etwa von Sascha Lobo, der die Erfahrung machte, dass die Zeit  einiges von selbst erledigt. "Lobo hatte sich irgendwann dazu entschlossen, Behördenbriefe nicht mehr zu öffnen. Als er nach einem Jahr nachschaute, was drinstand, war das Verfahren gegen ihn wegen Geringfügigkeit eingestellt worden."

Zugegeben, meine Erwartungen wurden bei weitem nicht erfüllt. Anstatt mir zu sagen, wann genau ich was tun soll, um fortan ausgeglichen und glücklich meine Tage zu verbringen, werde ich mit einem Sammelsurium von schlauen Anregungen und vielerlei Wissenswertem abgespeist. Darunter finden sich übrigens auch ausgesprochen nützliche Hinweise. So weist der Autor unter anderem diejenigen, die glauben, was nicht verboten sei, sei ganz bestimmt unbedenklich, wie folgt zurecht: "Sicher, so wie es bis heute nicht verboten ist, mit Föhn in die Badewanne zu steigen, mit Drähten in Steckdosen herumzubohren oder sich ausschliesslich von Marzipanschweinen zu ernähren."

Körperzeiten ist unterhaltsam und erhellend, auch wenn sich darin für meinen Geschmack arg viele "es kommt drauf an"-Aussagen finden. Andererseits: So ist die Welt nun mal. Und eben auch die Wissenschaft. Gewissheiten gibt es nur auf Zeit. Das ist weder gut noch schlecht, es ist einfach. Zu meinem Lieblingsratschlägen in diesem Werk gehört: "Was hilft aller Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen." (Georg Christoph Lichtenberg).

PS: Sehr gelacht habe ich, als ich die Danksagung las, denn diese führt (auf zwei Seiten!) neben zwei Doktoren ausschliesslich Professoren auf. Es ist nicht anzunehmen, dass sie zu ihren Titeln und Funktionen gekommen sind, weil sie sich den Erfordernissen unserer überaus hektischen Zeit, und insbesondere dem Zeitdruck, entzogen haben.

Werner Bartens
Körperzeiten
Wie wir im richtigen Moment das Richtige
tun und besser lernen, lieben und leben
Droemer, München 2021

Donnerstag, 15. Juli 2021

Einsichten Ausblicke

Von den vielen Büchern, Essays und Artikeln, die ich gelesen habe, ist mir erstaunlich wenig hängengeblieben. Warum sich mir dennoch Einiges davon ins Hirn eingegraben hat und Anderes nicht, vermag ich nicht zu sagen. Zu dem Hängengebliebenen gehört eine Aussage von Albert Hofmann, dem Entdecker des LSD, auf die ich in einem Artikel der Weltwoche vom 15. Januar 1998 gestossen bin und worin es heisst: "Jeden Morgen lässt er seinen Wecker um sechs schellen, um zu erleben, wie der Morgen, wie der Tag kommt, und dem Herrgott seine Welt zu sehen."

Als ich zum ersten Mal seine Essays Einsichten Ausblicke durchblättere, fällt mein Blick auf:

Ist es nicht wunderbar.
dass wir nicht wissen,
woher wir kommen,
wohin wir gehen?
Das Wissen
würde das Wunder
zerstören.

So habe ich das noch nie gesehen. Und obwohl ich mit der Vorstellung, dass das Wissen das Wunder zerstört, nicht einig gehe, gefällt mir die Idee, dass es wunderbar sein kann, nicht zu wissen. Anstatt einen vermeintlichen Halt im Wissen zu suchen, wäre wichtiger, das Wunder des Lebens zu erfahren. So .interpretiere ich dieses Gedicht momentan.

Wobei: Das Eine schliesst das Andere ja nicht notwendigerweise aus. So hat etwa die wissenschaftliche Forschung "sichtbar werden lassen, wie der Mensch in das Ganze der Natur eingebettet ist und wie er ein unablösbarer Teil von ihr darstellt. Dieses Wissen steht in Übereinstimmung mit der emotionalen Erfahrung des Mystikers von der Einheit alles Lebendigen."

Für Kinder ist die Welt noch nicht selbstverständlich. "So erscheint sie erst den Erwachsenen mit ihrem durch Gewohnheit abgestumpften Empfinden." Albert Hofmann warnt: "An Selbstverständlichkeit könnte die Welt zugrundegehen." Um dies zu vermeiden, gilt es Gegensteuer zu geben. De-automatize, hat Osho vorgeschlagen.

Unsere Weltsicht hängt von unserem Standpunkt ab: Unten im Tal, oben auf dem Berg, in der Tiefe des Meeres, vom Weltall aus – die Perspektiven variieren, doch sie schliessen sich nicht aus, sie ergänzen sich. Und genau davon handeln diese Essays.

"Das Sender-Empfänger Modell der Wirklichkeit" heisst der erste, der aufzeigt, "dass Wirklichkeit kein fest umrissener Zustand ist, sondern das Ergebnis von kontinuierlichen Prozessen, bestehend aus einem kontinuierlichen Input von materiellen und energetischen Signalen aus dem äusseren Raum und ihrer kontinuierlichen Dechiffrierung, das heisst Umwandlung in psychische Erfahrungen, im inneren Raum." Wir sind also stetig dabei, unsere sehr persönliche Wirklichkeit zu erschaffen. Und zwar auf Grundlage dessen, was uns zur Verfügung steht, denn die menschlichen Sinne sind begrenzt. So kann etwa unser Sehapparat nur einen kleinen Ausschnitt der im Universum existierenden elektromagnetischen Wellen erkennen.

Der zweite Essay ist mit "Geborgenheit im naturwissenschaftlich-philosophischen Weltbild" überschrieben, und macht mir bewusst, wie informiertes Hinschauen das genaue Hinsehen ergänzt. "Wenn ich im Garten oder auf einem Spaziergang vor einer Pflanze stehe, sie meditierend betrachte, dann sehe ich nicht nur, was auch der Nichtchemiker sieht, ihre Gestalt, ihre Farbe, ihre Schönheit, sondern es drängen sich mir zudem Gedanken auf über ihren Bau, ihr inneres Leben und die chemischen und physikalischen Vorgänge, die ihm zugrundeliegen."

Mit "Über den Besitz" ("Der Herr sagte: Mein Garten ...– und sein Gärtner lächelte.") ist der dritte Essay überschrieben; mit "Atomkraftwerk Sonne" der vierte ("Es wurde errechnet, dass die an einem einzigen Tag auf die Erde einfallende Energiemenge ausreichen würde, um den heutigen Energiebedarf für einige hundert Jahre zu decken."). Abgerundet wird der Band mit "Gedanken und Bilder", aus dem das eingangs erwähnte Gedicht stammt. 

Diesen Einsichten Ansichten gemeinsam ist eine Grundhaltung der Ehrfurcht – und diese tut uns Not.

Albert Hofmann
Einsichten Ausblicke
Essays
Nachtschatten Verlag, Solothurn 2021

Mittwoch, 7. Juli 2021

Der König auf diesem Planeten

 Meiner Meinung nach ist das Virus der König auf diesem Planeten, und wir sollten uns nach ihm richten. Der Mensch existiert nur als Gast dieses Meisters der Quantensprünge, der sich so hervorragend an das anpasst, was er nicht vorhergesehen hat.

Pauline Melville: Der Bauchredner (2000)

Donnerstag, 1. Juli 2021

Bewölkt aber trocken

"Ein Roman-Debüt, in dem tiefer Ernst und überbordernder Witz auf grossartige Weise zusammenkommen", lese ich auf dem Buchumschlag. Da habe ich offenbar ein ganz anderes Buch gelesen. Auf mich wirkte die Lektüre extrem detailreich (jeder Gedanke, welcher der Protagonistin durch den Kopf geht, scheint ihr wert, aufgezeichnet zu werden – sogar was es in der Klinik zum Mittagessen gibt und dass man dabei Schlange stehen muss, erfährt man); ihre Rückblenden auf die Probleme mit Mann und Sohn waren mir schlicht zu viel. Doch dieses wortreiche Abschweifen von dem, worum es eigentlich gehen sollte – sich der Sucht zu stellen – ist natürlich typisch für Alkoholiker und insofern eben auch ausgesprochen realitätsnah.

Lucy, 35, fährt angetrunken in eine Leitplanke. Der zweijährige Sohn auf dem Rücksitz bleibt zwar unverletzt, doch sie selber kriegt einen gehörigen Schreck (Schuldgefühle inklusive). Auf Betreiben ihrer Freundin Marie geht sie in eine Entwöhnungsklinik. "Sie sind nicht sehr freundlich gewesen zu ihrem Körper", fasst die einweisende Ärztin den Alkoholismus schön zusammen.

Ein Klinikeintritt bedeutet nicht, dass man bereit ist, sich der Sucht zu stellen und das Nötige zu tun, um davon loszukommen bzw. sie zum Stillstand zu bringen. Lucys Widerstände sind mannigfaltig, ihr differenziertes. kritisches Denken, das sie vornehmlich zum Rationalisieren ihrer Skepsis einsetzt, stehen einer Genesung im Weg. Sie hat einen Rückfall, wird jedoch nicht rausgeschmissen.

Sie nimmt an Treffen der Anonymen Alkoholiker teil, hört Hilfreiches von der Therapeutin, die ihr rät, in den Körper, ins Hier und Jetzt zu kommen. "Der Körper kennt keine Vergangenheit. Und keine Zukunft. Er ist immer gegenwärtig. In jeder Sekunde sterben Zellen und es bilden sich neue. Je besser Sie lernen, sich in Ihrem Körper zu verankern, umso weniger kann die Angst Sie überfluten. Ihr Körper holt Sie zurück auf den Boden. Üben Sie, ihn zu spüren. einfach irgendwo anfangen. Bei den Händen zum Beispiel." Es sind vor allem solche Stellen, welche die Lektüre für mich lohnen.

Bewölkt aber trocken überzeugt vor allem als Dokument des Sich-Nicht-Ändern-Wollens. Nichts, das die Protagonistin nicht kritisiert. "Alles, was  in der Gruppe passiert, bleibt hier im Raum", sagt die Therapeutin nach einem Gruppentreffen. Ein Standardsatz, der bei den Meetings der Anonymen Alkoholiker regelmässig zu hören ist. Es ist eine Aufforderung an alle Teilnehmenden, doch Lucy, weit weg von jeder Eigenverantwortung, fragt sich, wie die Therapeutin das bloss garantieren will.

Therapeuten haben den Vorteil der Distanz und können so Muster erkennen, die denen, die zu nahe dran sind, meist entgehen. Lucy wollte nie so sein, wie ihre trinkende Mutter. "Kinder sind wie Spiegel", sagt die Therapeutin einmal. Möglicherweise habe ihre Mutter sich selbst gesehen.

Wie alle Alkoholiker ist Lucy feige, weicht aus, konfrontiert sich nicht mit der Lebenswirklichkeit. Bevor sie eine Entscheidung treffe, so die Therapeutin, müsse sie auch die Konsequenzen kennen. Ein Leben ohne Alkohol bedeute: "Kein Sicherheitsnetz mehr. Sie werden Angst haben. Sich einsam fühlen. Wütend sein. Alles, was zum Leben gehört." Kein Wunder, gelingt den wenigsten, der Sucht Paroli zu bieten.

Schlussendlich traut sich Lucy, zu fühlen, was sie fühlt und zu sagen, was sie denkt. Sie hat den Mut zur Eigenverantwortung. Und macht die Erfahrung, dass wenn sie sich ändert, auch die Menschen um sie herum sich ändern.

PS: Der Kondukteur im Zug wirft einen Blick auf den Buchumschlag und so frage ich ihn, was er glaube, wovon das Buch wohl handle. Offenbar vom Wetter, meint er. Ich nicke nur und denke so für mich: Jeder Kontext ist wieder anders, die Vorstellungen, die wir der Welt überstülpen, höchst individuell. 

Marion Zechner
Bewölkt aber trocken
Leykam Verlag, Wien 2021