Mittwoch, 15. Januar 2020

Fünf Meditationen über den Tod

Es ist dieser Perspektivenwechsel, den François Cheng in der ersten Meditation dieses schön gestalteten Werkes vorschlägt, der mich ganz unbedingt für diesen Text einnimmt. „Anstatt den Tod von dieser Seite des Lebens aus wie ein Schreckgespenst anzustarren, könnten wir den Tod in unsere Sicht einbeziehen und das Leben von der anderen Seite, nämlich von unserem Tod aus betrachten (...) Vollziehen wir diese Wende nicht, bleiben wir von einer hermetischen Sichtweise beherrscht, der zufolge unser Leben, egal was wir tun, enttäuschend endet mit einer Schlussfolgerung, die sich in einem Wort zusammenfassen lässt: das Nichts.“

Die Bewunderung des jungen François Cheng (geboren 1929 in China, Übersiedelung nach Frankreich im Alter von neunzehn Jahren), gehörte den Dichtern, nicht nur ihres lyrischen Ausdrucks, sondern der plötzlichen Eingebungen wegen, die sich in ihren Worten manifestierte. In Rilkes „O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod“ vermeint er seine eigene Stimme zu hören.

„Der Tod verwandelt das Leben in Schicksal“, schrieb André Malraux. Cheng kommentiert: „Demzufolge ist das Universum nicht bloss ein Haufen von Entitäten, die sich blind bewegen, es besteht aus einer ausserordentlichen Vielfalt von Wesen, von denen jedes, getrieben vom Wunsch zu leben, einer gerichteten Bahn folgt, einer Bahn, die ausschliesslich ihm eigen ist.“ Sich dies zu vergegenwärtigen, lässt einen (zugegeben, ich spreche von mir) das Leben auch „als ein unglaubliches, heiliges Geschenk“ sehen – und für Geschenke sollten wir dankbar sein.

„Neben der Gewissheit des Todes gibt es in uns diese Gewissheit, dass wir den Augenblick des Lebens beherrschen.“ Cheng unterscheidet den Augenblick von der Gegenwart, die er als ein blosses Bindeglied in der chronologischen Ordnung versteht. Der Augenblick hingegen geschieht ganz unvermittelt, kristallisiert blitzartig „im Inneren unseres Bewusstseins die Erlebnisse der Vergangenheit und die Träume der Zukunft zu einer aus dem namenlosen Meer aufgetauchten Insel, die plötzlich von einem grellen Lichtkegel erhellt wird.“ Nietzsche vertrat die Auffassung, dass wer Ja zu zu einem einzigen Augenblick sage, habe zu allem Dasein Ja gesagt, denn nichts stehe für sich allein, alles sei miteinander verbunden.

Fünf Meditationen über den Tod und über das Leben verblüfft immer wieder durch Chengs genaue Wahrnehmung, die Zeugnis ablegt vom alltäglichen Wunder, dem wir teilhaftig sind. Etwa wenn er auf unsere erstaunliche Fähigkeit hinweist, „zu fühlen und Anteil zu nehmen“. Oder wenn er darauf aufmerksam macht, dass unser Unbewusstes „sich nie vollständig erhellen lässt.“ Oder wenn er feststellt: „Jedes Wesen erstrebt auf Grund seiner Einmaligkeit die volle Entfaltung seiner Anwesenheit in der Welt, gleich einer Blume oder einem Baum.“

Er habe im Grunde sein ganzes Leben „mit Lesen und Schreiben verbracht, vor allem aber mit Denken und Meditieren“, notiert der Autor und so überrascht es nicht, dass Fünf Meditationen über den Tod und über das Leben auch vorführt, wie vielfältig gebildet dieser Mann ist – und dieses Bildungsbürgerwissen wurde mir manchmal etwas gar viel.

Über den Tod und das Leben nachzudenken, bedeutet auch, sich mit der Schönheit und dem Bösen zu befassen und verstehen zu lernen: „Das Leben gehört uns nicht, wir gehören ihm.“ Uns ist aufgegeben, so Cheng, uns der heiligen Ordnung des Lebens rückhaltlos anzuvertrauen, damit „die Entwicklung des Lebens zu einem gewaltigen Abenteuer voller bemerkenswerter Erfolge und unvorhersehbarer Gefahren“ werden kann.  

Fünf Meditationen über den Tod und über das Leben schärft nicht nur die Wahrnehmung, es trägt darüber hinaus dazu bei, mit einem neuen Bewusstsein durchs Leben zu gehen.

Ein im wahrsten Sinne des Wortes wunderbares Buch!

François Cheng
Fünf Meditationen über den Tod
und über das Leben
C.H.Beck, München 2015

Mittwoch, 1. Januar 2020

Alles ist gut, alles

Zu seinen Gewohnheiten gehörte, Unangenehmes so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Die Idee dahinter – wenn es denn überhaupt eine Idee war, so war es keine bewusste, von der ihm klar war, dass sie sein Verhalten leitete, sondern eine nachgereichte – war, anschliessend das machen zu können, wozu er mehr Lust hatte. Leider ist es nun aber so, dass, kaum hatte er die eine unangenehme Sache (meist Problem genannt) hinter sich gebracht, schon die nächste vor seiner Nase stand. Mit anderen Worten: Er räumte ständig so schnell wie möglich Probleme aus dem Weg, deren Anzahl sich deswegen jedoch nicht zu verringern schien.

Wer sich ändern wollte, musste sich anstrengen, hatte er sein Leben lang geglaubt. Neues zu wagen, erforderte Mut. Das war zwar nicht falsch, doch es umschiffte, worum es wirklich ging – man musste nicht ändern, was man tat (sicher, das war manchmal notwendig – wenn man dem Suff verfallen war, zum Beispiel), sondern wie man es tat. Dass das Leben schwierig war, war nicht das Problem, sondern dass man nicht akzeptieren wollte, dass es schwierig war.

Hehre Worte, doch seine Praxis war anders und bestand wesentlich darin, darauf zu warten, dass alles sich ganz plötzlich perfekt anfühlte. Das war sein Muster und er war unfähig, es zu brechen. Und dann, er merkte es erst im Nachhinein, ging er auf einmal anders durch den Tag als zuvor, haderte er nicht mehr mit seinen ständig misslingenden Versuchen, ein neues Leben zu beginnen. Es war ihm, als ob er endlich begriffen hätte, dass er ohne sein Scheitern nicht aufgegeben hätte und dass Aufgeben (surrender, wie es im Englischen zutreffend heisst) die Voraussetzung für die andere Art von Leben war, die ihm vorschwebte. Scheitern war notwendig, war Vorbereitung für das, was ultimativ zählt – die Hingabe ans Leben. Schon etwas esoterisch, dachte er so bei sich, doch was zählte waren nicht die Worte, sondern die Erfahrung zu machen.

Alles ist gut, alles. Für alle die ist es gut, die da wissen, dass alles gut ist. Wenn sie wüssten, dass sie es gut haben, dann hätten sie es gut, aber so lange sie das nicht wissen, so lange werden sie es auch nicht haben. Das ist der ganze Gedanke, der ganze Sinn, einen weiteren gibt es überhaupt nicht.
Fjodor M. Dostojewski: Die Dämonen

Hans Durrer
Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn
Ansichten und Einsichten
neobooks, München 2019