Es ist dieser Perspektivenwechsel, den
François Cheng in der ersten Meditation dieses schön gestalteten
Werkes vorschlägt, der mich ganz unbedingt für diesen Text
einnimmt. „Anstatt den Tod von dieser Seite des Lebens aus wie ein
Schreckgespenst anzustarren, könnten wir den Tod in unsere Sicht
einbeziehen und das Leben von der anderen Seite, nämlich von unserem
Tod aus betrachten (...) Vollziehen wir diese Wende nicht, bleiben
wir von einer hermetischen Sichtweise beherrscht, der zufolge unser
Leben, egal was wir tun, enttäuschend endet mit einer
Schlussfolgerung, die sich in einem Wort zusammenfassen lässt: das
Nichts.“
Die Bewunderung des jungen François
Cheng (geboren 1929 in China, Übersiedelung nach Frankreich im Alter
von neunzehn Jahren), gehörte den Dichtern, nicht nur ihres
lyrischen Ausdrucks, sondern der plötzlichen Eingebungen wegen, die
sich in ihren Worten manifestierte. In Rilkes „O Herr, gib jedem
seinen eigenen Tod“ vermeint er seine eigene Stimme zu hören.
„Der Tod verwandelt das Leben in
Schicksal“, schrieb André Malraux. Cheng kommentiert: „Demzufolge
ist das Universum nicht bloss ein Haufen von Entitäten, die sich
blind bewegen, es besteht aus einer ausserordentlichen Vielfalt von
Wesen, von denen jedes, getrieben vom Wunsch zu leben, einer
gerichteten Bahn folgt, einer Bahn, die ausschliesslich ihm eigen
ist.“ Sich dies zu vergegenwärtigen, lässt einen (zugegeben, ich
spreche von mir) das Leben auch „als ein unglaubliches, heiliges
Geschenk“ sehen – und für Geschenke sollten wir dankbar sein.
„Neben der Gewissheit des Todes gibt
es in uns diese Gewissheit, dass wir den Augenblick des Lebens
beherrschen.“ Cheng unterscheidet den Augenblick von der Gegenwart,
die er als ein blosses Bindeglied in der chronologischen Ordnung
versteht. Der Augenblick hingegen geschieht ganz unvermittelt,
kristallisiert blitzartig „im Inneren unseres Bewusstseins die
Erlebnisse der Vergangenheit und die Träume der Zukunft zu einer aus
dem namenlosen Meer aufgetauchten Insel, die plötzlich von einem
grellen Lichtkegel erhellt wird.“ Nietzsche vertrat die Auffassung,
dass wer Ja zu zu einem einzigen Augenblick sage, habe zu allem
Dasein Ja gesagt, denn nichts stehe für sich allein, alles sei
miteinander verbunden.
Fünf
Meditationen über den Tod und über das Leben verblüfft
immer wieder durch Chengs genaue Wahrnehmung, die Zeugnis ablegt vom
alltäglichen Wunder, dem wir teilhaftig sind. Etwa wenn er auf
unsere erstaunliche Fähigkeit hinweist, „zu fühlen und Anteil zu
nehmen“. Oder wenn er darauf aufmerksam macht, dass unser
Unbewusstes „sich nie vollständig erhellen lässt.“ Oder wenn er
feststellt: „Jedes Wesen erstrebt auf Grund seiner Einmaligkeit die
volle Entfaltung seiner Anwesenheit in der Welt, gleich einer Blume
oder einem Baum.“
Er
habe im Grunde sein ganzes Leben „mit Lesen und Schreiben
verbracht, vor allem aber mit Denken und Meditieren“, notiert der
Autor und so überrascht es nicht, dass Fünf
Meditationen über den Tod und über das Leben
auch vorführt, wie vielfältig gebildet dieser Mann ist – und
dieses Bildungsbürgerwissen wurde mir manchmal etwas gar viel.
Über den Tod und das Leben nachzudenken, bedeutet auch, sich mit der
Schönheit und dem Bösen zu befassen und verstehen zu lernen: „Das
Leben gehört uns nicht, wir gehören ihm.“ Uns ist aufgegeben, so
Cheng, uns der heiligen Ordnung des Lebens rückhaltlos
anzuvertrauen, damit „die Entwicklung des Lebens zu einem
gewaltigen Abenteuer voller bemerkenswerter Erfolge und
unvorhersehbarer Gefahren“ werden kann.
Fünf Meditationen über den Tod und über das Leben schärft nicht nur die Wahrnehmung, es trägt darüber hinaus dazu bei, mit einem neuen Bewusstsein durchs Leben zu gehen.
Ein im wahrsten Sinne des Wortes wunderbares Buch!
François Cheng
Fünf Meditationen über den Tod
und über das Leben
C.H.Beck, München 2015
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