Die Werbetexterin Andrea Noack, verheiratet, Mutter einer Tochter, ist 52, als sie sich ins Allgemeine Krankenhaus Hamburg (AKH), Sozialpsychiatrische Abteilung, zum Entzug begibt. Zur Behandlung gehört auch Gruppentherapie und wie sie diese beziehungsweise die Teilnehmer (weiblich wie männlich) schildert (niemanden schätzt sie richtig ein), ist echt der Brüller – ich habe Tränen gelacht und mich an Simon Borowiaks Alk erinnert, ein Werk, das auch unter der Rubrik "Eine subjektive und begrenzte Auswahl von Literatur und Filmen zum Thema Alkoholabhängigkeit" am Schluss dieses Buches aufgeführt wird.
Anschaulich und unprätentiös schildert Andrea Noack ihren Klinikaufenthalt, erzählt von sich und ihren Mitpatienten, klärt darüber auf, was unter Suchtdruck zu verstehen ist und macht klar, wie der Bestie Sucht begegnet werden soll: "Die einzige Möglichkeit, der Bestie beizukommen, ist Abstinenz. Konsequente, dauerhafte, hundertprozentige Abstinenz." Genau so isses!
In Gesprächen mit ihrer Therapeutin findet sie heraus, dass es in ihrer Biografie einen guten Grund für ihre Alkoholabhängigkeit gibt. "Diesen Grund herauszufinden und zu verarbeiten, ist das Ziel jeder Suchttherapie. Denn sonst kann Abstinenz auf Dauer nicht gelungen", lese ich im Klappentext. Ich teile zwar diese Auffassung nicht (keinem Grund wohnt eine zwingende Folgerichtigkeit inne: der Grund fürs Saufen kann genau so gut der Grund fürs Aufhören sein), doch wenn dieser Ansatz für Andrea Noack funktioniert, gibt es dagegen keinen vernünftigen Einwand. Whatever works.
Nichtsdestotrotz: Weder für Alkoholabhängigkeit noch für Abstinenz braucht es einen erkennbaren Grund. Nach Gründen zu suchen ist selten mehr als eine Rechtfertigung für die therapeutische Tätigkeit (und den Lohn dafür). Gründe gehen dem Handeln nicht voran, Gründe werden vom Hirn nachgeliefert.
Gestaunt habe ich, dass Andrea offenbar während Jahren eine Psychoanalyse machte. War denn ihre Trinkerei da kein Thema? Es gibt Analytiker, denen ist die Sucht ihrer Patienten nicht zentral (sie befassen sich lieber mit anderen Störungen), es gibt auch Psychiater, die bemerken sie nicht einmal.
In der Klinik hat sie auch Bekanntschaft mit den Anonymen Alkoholikern und den Guttemplern gemacht, sich dann aber für eine freie Selbsthilfegruppe entschieden, die von Ehemaligen aus dem AKH ins Leben gerufen worden war. Wie alle, die an solchen Treffen teilnehmen, vergleicht sie sich mit den anderen (So schlimm wie bei dem ist es bei mir definitiv nicht etc. etc.) und fragt sich, ob sie wirklich für immer auf Alkohol verzichten muss. Wie alle Alkis glaubt auch sie, sie sei eine Ausnahme und ist die Regel.
Die Bestie schläft (ein überaus treffender Titel, der deutlich macht, dass es keine Heilung von der Sucht gibt) liefert auch Einblicke in den Alltag von Werbeagenturen und der sieht genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe – eitel, hohl, chaotisch und unprofessionell. Wobei die Kunden der Agenturen auch nicht anders sind.
Sie hat einen Rückfall. Und noch einen. Und noch einen. Und noch einen. Jeder wird ausführlich geschildert, spannend liest sich das nicht, doch eine Sucht ist selten spannend.
Sie erhält die Diagnose manisch-depressiv/bipolar, leidet zudem an einer Neigung zur Zwangserkrankung sowie an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Sie macht erneut einen Entzug, dieses Mal in einer Reha. Eindrücklich schildert sie, was unter Suchtdruck zu leiden heisst, macht gute Erfahrungen mit der EMDR-Behandlung und Psychopharmaka (den für sie richtigen). Sie ist seit mittlerweile acht Jahren trocken. Und raucht auch nicht mehr.
Die Bestie schläft erzählt eine gänzlich alltägliche, ziemlich banale und recht "normale" Geschichte. Und ist genau deswegen zu empfehlen.
Andrea Noack
Die Bestie schläft
Meine Alkoholsucht und wie ich sie überwand
Karl Blessing Verlag, München 2019
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