Mittwoch, 27. November 2019

Heilen aus eigener Kraft

Alles hängt mit allem zusammen, das ist ein Gemeinplatz. Was es konkret bedeutet, in Bezug auf unseren Körper, erfährt man in diesem Buch. Mehr noch: "Das Gros der Leiden, die uns befallen, wird von den natürlichen Verteidigungsmechanismen des Körpers geheilt. Diese zu verstehen und zu lernen, wie wir sie uns zunutze machen können, wird womöglich eines der wichtigsten Zukunftsgeschenke der Wissenschaft an den Menschen und seine Gesundheit sein."

Daniel M. Davis, Professor für Immunologie, der Lehre von den Abwehrmechanismen gegen Krankheitserreger wie Bakterien, Viren und Pilzen sowie andere körperfremde Stoffe, berichtet in Heilen aus eigener Kraft davon, "wie und warum das Immunsystem so und nicht anders arbeitet." Und erzählt dabei auch, wie aufregend und schwierig die wissenschaftliche Forschung ist.

Das Immunsystem des Körpers reagiert auf Zeug, mit dem der Körper zuvor nicht in Kontakt gekommen ist. Er erkennt es als Gefahr und wehrt sich dagegen. Bis 1989 galt dies als allgemein akzeptiert. Doch dann begannen Charles Janeway und seine Frau Kim Bottomly sich zu fragen, weshalb etwa Nahrungsmittel, Staub oder harmlose Darmbakterien (die alle keine Gefahr darstellten) keine Immunreaktion auslösten. Verfügten menschliche Immunzellen über Mustererkennungsrezeptoren, die imstande waren, charakteristische Strukturen von Erregern zu erkennen? Ja, das tun sie und dieses Buch erzählt, wie man ihnen beziehungsweise einigen von ihnen auf die Spur gekommen ist.

Das war gar nicht so einfach, denn es galt vielerlei Hindernisse zu überwinden. "Es liegt in unserem Wesen, dass wir versuchen, Problemen mit Strategien beizukommen, die in der Vergangenheit funktioniert haben. Doch zu wissen, was vormals funktioniert hat, kann uns auch blind für Erkenntnisse machen, die nötig sind, um wichtige Schritte vorwärts zu tun." Klar, Professor Davis bezieht sich hier auf  die wissenschaftliche Forschung, doch diese Sätze gelten auch ganz allgemein für die Lösung von Problemen.

Zu beachten galt zudem auch dies: "Wir sehen weniger mit unseren Augen, als vielmehr mit unseren Gehirnen. Unser Gehirn filtert und interpretiert alles, was die Sinnesorgane unseres Körpers wahrnehmen, und aus diesem Grund sehen wir häufig nur, was wir suchen und bemerken das Unerwartete nicht ....". Doch nicht nur diese Unaufmerksamkeitsblindheit steht der Erkenntnis im Weg, auch unsere Annahmen und Interpretationen erweisen sich oft als Hîndernisse.

Daniel M. Davis ist ein ausgesprochen begabter Erzähler, der unter anderem deutlich macht, dass die Art der Pionierforschung, die in der Immunologie stattfindet, keine 'Plan-Wissenschaft' ist, der Fortschritt verdankt sich vielmehr einigen wenigen Individuen. "Der kreative Prozess für Künstler und Wissenschaftler kann sich unter Umständen in vieler Hinsicht bemerkenswert ähneln. Genau wie Schriftsteller schlagen auch Wissenschaftler mit den Flügeln, jammern herum und sind nahe am Verzweifeln, wenn sie versuchen, einen  Plot und eine Struktur zu finden, die hinhaut." Und natürlich gibt es auch Neid, Konkurrenz-Denken und Missgunst.

Die Komplexität des Immunsystems ist atemberaubend, die Aufgabe des Wissenschaftlers, so Davis, vergleichbar einem Mann (ja klar, es kann auch eine Frau sein), dem ein Ball gegeben wurde, und der jetzt herausfinden musste, was überhaupt gespielt wird. ".... was passiert, wenn dendritische Zellen mit diesen oder jenen anderen Zellen in unterschiedlichen Konstellationen zusammengebracht werden: Vermehren sie sich, sterben sie oder schütten sie dieses oder jenes Proteinmolekül aus? Macht es einen Unterschied, ob man sie eine Stunde oder über Nacht zusammenlässt'? Verändern sie ihre Gestalt, werden sie abgestossen oder angezogen, bewegen sie sich langsamer oder schneller, werden sie grösser oder kleiner, entwickeln sie mehr oder weniger Fortsätze, schalten sie dieses oder jenes Gen an  oder ab?"

Heilen aus eigener Kraft zeigt eindrücklich auf, dass unser Immunsystem  kein statisches Gebilde, sondern dauernd in Bewegung ist, beeinflusst unter anderem von Stress, Alter, Tageszeit und unserer seelischen Verfassung. Doch auch wenn die neuesten Erkenntnisse bahnbrecend sind, bleibt das Immunsystem  (wie jedes grosse System, vom Sonnensystem bis zum Finanzsystem) ein Rätsel. Dieses zu entschlüsseln, dazu liefert dieses Buch wesentliche Erkenntnisse. Darüber hinaus trägt das Ergründen von Einzelheiten dazu bei, uns als das zu sehen, "war wir wirklich sind, und das befreit uns aus dem Gefängnis der Engstirnigkeit."

Fazit: Ein gut geschriebenes, spannendes Buch, das uns viel über die Immunologie und noch mehr über den Menschen lehrt.

PS: Wer sich wundert, ein Buch über Immunologie auf einem Sucht-Blog zu finden - dieses Werk lehrt einen das Staunen, eines der besten Mittel gegen die Sucht.

Daniel M. Davis
Heilen aus eigener Kraft
Wie ein neues Verständnis unseres
Immunsystems die Medizin revolutioniert
DVA, München 2019

Mittwoch, 20. November 2019

Wie ein Wunder

Am 6. Mai 2015 erlitt der Arzt und Moderator Dierk Heimann, Jahrgang 1968, einen Schlaganfall. Er zitiert dazu seinen Lieblingssatz aus dem Musical "Cinderella": "Unmögliche Dinge passieren jeden Tag." Sowohl sein Schlaganfall (er gehörte nicht zu einer Risikogruppe) wie auch seine (fast gänzliche) Wiederherstellung sind statistische Ausnahmen.

"Das Leben ist nicht fair. Im Guten wie im Schlechten. Es gibt nicht immer einen erkennbaren Sinn. Medizin ist Statistik, und Statistiken haben keinerlei Aussagekraft für den Einzelnen", schreibt er. Und: Er habe es oft vermisst, dass seine Therapeuten mit ihm redeten und so nimmt er sich vor, es in diesem Buch anders zu halten – und er tut es dann auch, offen und persönlich. Nur schon deswegen lohnt die Lektüre.

Wie hat er es geschafft, wieder gesund zu werden? Indem er den Schlaganfall als eine weitere Herausforderung des Lebens begriff. "Sie haben sich immer etwas vorgenommen, das hat dann nicht geklappt – also haben Sie es anders gemacht. Das war Ihr Erfolgsrezept", sagte ihm einmal ein Kollege. Ein gutes Rezept für alle Lebenslagen, wie ich meine.

Wie ein Wunder beginnt mit einem eindrücklichen Prolog, der einem vor Augen führt, dass ärztliches Wissen, wenn man selbst Patient ist, nicht immer hilft. So ist Dierk Heimann auf die mit dem Schlaganfall einhergehende Sprachlosigkeit nicht vorbereitet. "Obwohl ich das von Berufs wegen doch eigentlich können müsste. Auch meiner Frau fiel es schwer. Sie ist Psychiaterin und in  Fragen der Kommunikation noch besser ausgebildet als ich." Woraus man lernt: eine Ausbildung in Kommunikation (Anlage und Talent sind entscheidender) wird generell überbewertet.

Etwas studiert oder etwas erfahren zu haben, ist nicht dasselbe. Deutlicher als bei Dierk Heimann habe ich das selten so gelesen: "Für mich kann ich sagen: Obwohl ich als Arzt viel über Schlaganfälle und ihre Auslöser, Ursachen, Beschwerden, Diagnostik und Therapie wusste – was ich hier gerade erlebe, ist etwas völlig Neues. Ich weiss jetzt, wie es sich anfühlt – und es ist mehr, als ich vorher auch nur erahnen konnte. Es ist anders. Es ist schlimmer."

Das Gehen bereitet ihm Mühe. Das Spechen, Lesen und Schreiben ebenso. Seine Wahrnehmung inklusive der Selbstwahrnehmung ist massiv beeinträchtigt. Er zwingt sich, er lügt, er schindet sich – er tut, was viele erfolgreiche Menschen tun, die nicht wissen, wie man pfleglich mit sich selber umgeht. Und da seine Anstrengungen nicht ohne Erfolg bleiben, fühlt er sich bestätigt.

Seine Lage zu akzeptieren ist nicht sein Ding. Sich helfen lassen auch nicht. Erst im Nachhinein merkt er, dass ihn das viel Kraft gekostet hat. Er wehrt sich, er kämpft. Seine  Willenskraft ist beeindruckend, seine Sturheit trägt Früchte. "Mir gelingt es, einen Grossteil von Frust, Ärger und Wut in Trotz zu verwandeln. Trotz gegen das Schicksal. Trotz gegen alle Prognosen. Ich nenne es meinen Genesungstrotz."

"Will ich zuviel?", fragt er sich. Das ist doch offensichtlich, denkt es in mir, doch Dierk Heimann sieht das anders. "Ich bin es gewohnt, mir selbst viel zuzumuten. So möchte ich sein. Mich hat das immer nach vorne gebracht." Er will auch kein neues Leben, er will sein altes zurück. Und er tut dafür, was er kann. "Bewegung ist mein Weg."
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Sein Bemühen um Aufrichtigkeit ist beeindruckend. Nicht nur schreibt er über Sex, sondern offenbart auch seine Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit – und wie er verbissen dagegen angeht. Gelassenheit gehört nicht zu seinen Charakterzügen, er will die Kontrolle behalten, seine Fassade aufrecht zu erhalten, ist ihm enorm wichtig. Dass er das zugibt, nötigt mir Respekt ab.

Sein Verarbeitungsmuster ist narzisstisch, auch weiss er, dass er für die meisten der Prototyp des Horrorpatienten ist: "ein besserwissender, bislang gesunder Arzt, der sein Schicksal noch nicht angenommen hat." Dieses Wissen nützt ihm nicht viel. Als er von einem Oberarzt die Einschätzung kriegt, sein Schlaganfall sei auf seinen vielen Stress zurückzuführen, verbittet er sich diese "Küchenpsychologie in 15 Sekunden". Da er ein gescheiter Mann ist, gelingt es ihm auch ohne Weiteres plausible Gegen-Argumente zu finden. "He was so smart, he missed the point completely", ist mir da durch den Kopf gegangen..

Dierk Heimann ist seinen eigenen Weg gegangen. Dabei hat er auch eine Lebensschule durchgemacht, die ihn ganz viel über sich selber sowie Geschäfts-Freundschaften, Ärzte und Krankenkassen gelehrt hat. Und auch über die Familie und echte Freunde. Verstehen gelernt hat er nicht zuletzt auch das Wesentlichste, was es im Leben zu verstehen gilt: "Meine Zeit ist die des Lebens. Jetzt." 

Aufrichtigkeit befreit. Wie ein Wunder legt davon eindrücklich Zeugnis ab.

Dr. med. Dierk Heimann
Wie ein Wunder
bene! Verlag, München 2019

Mittwoch, 13. November 2019

Living in the Present

The present moment is all we have. Yes, we have plans and goals, a vision for tomorrow. But now is the only time we possess. And it is enough.

We can clear our mind of the residue of yesterday. We can clear our mind of fears of tomorrow. We can be present, now. We can make ourselves available to this moment, this day. It is by being fully present now that we reach the fullness of tomorrow.

Have no fear, child, a voice whispers. Have no regrets. Relinquish your resentments. Let Me take your pain. All you have is the present moment. Be still. Be here. Trust. All you have is now. It is enough.

Mittwoch, 6. November 2019

Die Bestie schläft

Die Werbetexterin Andrea Noack, verheiratet, Mutter einer Tochter, ist 52, als sie sich ins Allgemeine Krankenhaus Hamburg (AKH), Sozialpsychiatrische Abteilung, zum Entzug begibt. Zur Behandlung gehört auch Gruppentherapie und wie sie diese beziehungsweise die Teilnehmer (weiblich wie männlich) schildert (niemanden schätzt sie richtig ein), ist echt der Brüller – ich habe Tränen gelacht und mich an Simon Borowiaks Alk erinnert, ein Werk, das auch unter der Rubrik "Eine subjektive und begrenzte Auswahl von Literatur und Filmen zum Thema Alkoholabhängigkeit" am Schluss dieses Buches aufgeführt wird.

Anschaulich und unprätentiös schildert Andrea Noack ihren Klinikaufenthalt, erzählt von sich und ihren Mitpatienten, klärt darüber auf, was unter Suchtdruck zu verstehen ist und macht klar, wie der Bestie Sucht begegnet werden soll: "Die einzige Möglichkeit, der Bestie beizukommen, ist Abstinenz. Konsequente, dauerhafte, hundertprozentige Abstinenz." Genau so isses!

In Gesprächen mit ihrer Therapeutin findet sie heraus, dass es in ihrer Biografie einen guten Grund für ihre Alkoholabhängigkeit gibt. "Diesen Grund herauszufinden und zu verarbeiten, ist das Ziel jeder Suchttherapie. Denn sonst kann Abstinenz auf Dauer nicht gelungen", lese ich im Klappentext. Ich teile zwar diese Auffassung nicht (keinem Grund wohnt eine zwingende Folgerichtigkeit inne: der Grund fürs Saufen kann genau so gut der Grund fürs Aufhören sein), doch wenn dieser Ansatz für Andrea Noack funktioniert, gibt es dagegen keinen vernünftigen Einwand. Whatever works. 

Nichtsdestotrotz: Weder für Alkoholabhängigkeit noch für Abstinenz braucht es einen erkennbaren Grund. Nach Gründen zu suchen ist selten mehr als eine Rechtfertigung für die therapeutische Tätigkeit (und den Lohn dafür). Gründe gehen dem Handeln nicht voran, Gründe werden vom Hirn nachgeliefert.

Gestaunt habe ich, dass Andrea offenbar während Jahren eine Psychoanalyse machte. War denn ihre Trinkerei da kein Thema? Es gibt Analytiker, denen ist die Sucht ihrer Patienten nicht zentral (sie befassen sich lieber mit anderen Störungen), es gibt auch Psychiater, die bemerken sie nicht einmal.

In der Klinik hat sie auch Bekanntschaft mit den Anonymen Alkoholikern und den Guttemplern gemacht, sich dann aber für eine freie Selbsthilfegruppe entschieden, die von Ehemaligen aus dem AKH ins Leben gerufen worden war. Wie alle, die an solchen Treffen teilnehmen, vergleicht sie  sich mit den anderen (So schlimm wie bei dem ist es bei mir definitiv nicht etc. etc.) und fragt sich, ob sie wirklich für immer auf Alkohol verzichten muss. Wie alle Alkis glaubt auch sie, sie sei eine Ausnahme und ist die Regel.

Die Bestie schläft (ein überaus treffender Titel, der deutlich macht, dass es keine Heilung von der Sucht gibt) liefert auch Einblicke in den Alltag von Werbeagenturen und der sieht genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe – eitel, hohl, chaotisch und unprofessionell. Wobei die Kunden der Agenturen auch nicht anders sind. 

 Sie hat einen Rückfall. Und noch einen. Und noch einen. Und noch einen. Jeder wird ausführlich geschildert, spannend liest sich das nicht, doch eine Sucht ist selten spannend.

Sie erhält die Diagnose manisch-depressiv/bipolar, leidet zudem an einer Neigung zur Zwangserkrankung sowie an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Sie macht erneut einen Entzug, dieses Mal in einer Reha. Eindrücklich schildert sie, was unter Suchtdruck zu leiden heisst, macht gute Erfahrungen mit der EMDR-Behandlung und Psychopharmaka (den für sie richtigen). Sie ist seit mittlerweile acht Jahren trocken. Und raucht auch nicht mehr.

Die Bestie schläft erzählt eine gänzlich alltägliche, ziemlich banale und recht "normale" Geschichte. Und ist genau deswegen zu empfehlen.

Andrea Noack
Die Bestie schläft
Meine Alkoholsucht und wie ich sie überwand
Karl Blessing Verlag, München 2019