Ob mich
Bücher ansprechen, entscheidet sich manchmal nach dem ersten Satz,
dem ersten Abschnitt oder den ersten Seiten. Manchmal aber auch erst
nach fünfzig Seiten. Bei Catherine Grays Vom unerwarteten
Vergnügen, nüchtern zu sein war es der erste Satz. Dieser
zitiert Joan Didion, die einmal gesagt hat: "Ich weiss nicht,
was ich denke, bis ich anfange, es aufzuschreiben." Genauso geht
es mir nämlich auch.
Teilt
jemand seine Geschichte, so ist das eine Einladung zur
Identifikation. Und umso mehr, wenn diese Geschichte so direkt und
offen erzählt wird, wie Catherine Gray es in Vom unerwarteten
Vergnügen, nüchtern zu sein tut. "Ich habe einfach nie das
Gefühl, die Wahl zu haben. Sobald ich was trinke, mache ich das
richtig." Sie weiss zwar, dass sie zu viel trinkt, doch sie ist
auch der Überzeugung, "dass das Trinken mein Leben mit Spass
und Lachen erfüllte."
Eines
Morgens erwacht sie hinter Gittern. In Brixton, Südlondon. "Ich
sah mal eine Frau, die um zwei Uhr morgens in Brixton aus dem Bus
stieg, sich niederhockte, mal kurz kackte und dann wieder in den Bus
stieg, als wäre das die normalste Sache auf der Welt. Als wäre sie
nur mal schnell ausgestiegen, weil sie ihre Einkaufstasche vergessen
hatte. Exzessiv zu saufen war in Brixton kinderleicht. Ich habe Leute
im Park gesehen, die sich volllaufen liessen. Brixton war das Babel
Londons, wo man selbst als total Irrer nicht auffiel …". Und
trotzdem war sie da wegen
Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung verhaftet worden.
Sie
nimmt sich vor, ihren Alkoholkonsum in den Griff zu bekommen,
unternimmt dabei auch ungewöhnliche Schritte wie betrunkene Frauen
nach Hause zu bringen, doch sie befindet sich auf einer
Abwärtsspirale und wird schliesslich auch physisch alkoholabhängig.
Nach etlichen Überzeugungsmomenten (so bezeichnet sie Momente, in
denen ihr klar wird, dass es so nicht weiter gehen kann) kommt sie an
ihren persönlichen Tiefpunkt. "Der Neuanfang verbirgt sich
häufig hinter der Maske des schmerzhaften Endes", zitiert sie
Laotse.
Nüchtern
sein muss man lernen. Dabei geht es um eine grundlegende Wandlung.
Catherine Gray gibt 30 Tipps für die ersten 30 Tage, die sie mit
einem Zitat von Cynthia Occelli einleitet: "Damit ein Samenkorn
sich vollkommen ausformen kann, muss es gänzlich zugrunde gehen.
Seine Schale bricht auf, sein Innerstes tritt aus, und es wandelt
sich grundlegend. Für jemanden aber, der Wachstumsprozesse nicht
versteht, sieht es so aus, als würde es vollkommen vernichtet."
Auf zwei der 30 Tipps will ich speziell hinweisen: "Ich
behandelte mich selbst so, wie ich ein Baby behandeln würde",
also wie ein fürsorglicher Elternteil. Und: "Ich habe mir immer
wieder ins Gedächtnis gerufen, dass ein Gedanke mich nicht zum
Trinken zwingen kann." Denn ein Gedanke ist nur ein Gedanke und
keine vollendete Tatsache, deren Sog man willenlos ausgeliefert ist.
Sie
erzählt von der Zeit als sie gesoffen hat und davon, wo sie heute
steht, war ihr jetzt wichtig ist. Dankbarkeit zum Beispiel. Dazu
zitiert sie auch den Neurowissenschaftler Alex Korb: "Der
entscheidende Punkt ist nicht die Empfindung der Dankbarkeit, sondern
die regelmässige Ausschau danach. Sich erinnern, dankbar zu sein,
ist eine Form emotionaler Intelligenz." Wer seine Dankbarkeit
nicht pflegt, beraubt sich vieler positiver Gefühle, hat einmal ein
lebenserfahrener Freund von mir gemeint. "Die Dankbarkeit
verbessert den Schlaf. der Schlaf reduziert Schmerzen. Weniger
Schmerzen heisst bessere Stimmung. Bessere Stimmung bedeutet keine
Angst mehr."
Natürlich
könne jeder behaupten, er habe sich geändert, schreibt Catherine.
Und lässt dann zwei Freundinnen zu Wort kommen, die sie sowohl
vorher als auch nachher erlebt haben. "Diese Geschichten waren
hart, wichtig und unglaublich berührend. Es ist erschreckend, wie
wenig von all dem tatsächlich bei mir haften geblieben ist."
Vom
unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein gibt viele Anregungen,
vom Umgang mit Leuten, die Alkohol trinken zum nüchtern Daten. Und
Catherine Gray macht nicht zuletzt klar, dass es ein Wundermittel
nicht gibt. Was für den einen funktioniert, ist für die andere
keine Option. Und was zu Beginn hilft, muss nicht auf ewig helfen.
"Die entschiedene Frage lautet nicht: 'Bin ich Alkoholiker?'
Verschieben Sie den Fokus auf: 'Wäre mein Leben schöner, wenn ich
nüchtern bleiben könnte?' Wenn die Antwort darauf ein Ja ist, dann
sollten Sie sich fürs Nüchternsein entscheiden."
Es
gehört zu den Stärken dieses Buches, dass die Autorin offen und
aufrichtig ihre Geschichte erzählt. Doch es sind nicht einfach
Memoiren, die sie vorlegt, sondern sie lässt auch viele andere
Stimmen zu Wort kommen, von Betroffenen zu Wissenschaftlern.Vom
unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein ist keine Nabelschau,
sondern ein überzeugendes Plädoyer, ein selbstbestimmtes Leben zu
leben.
Catherine
Gray
Vom
unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein
Frei
und glücklich – ein Leben ohne Alkohol
mvgverlag,
München 2018
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