Wir
leben in eigenartigen Zeiten: Für alles und jedes gibt es Kurse,
braucht es Diplome, muss man sich qualifizieren. Als die Journalistin
Ilka Piepgras, aufgerüttelt durch das tödliche Herzversagen ihres
gerade einmal fünfzigjährigen Nachbarn, sich mit dem Tod
auseinandersetzen will, beschliesst sie eine Ausbildung zur
Sterbebegleiterin zu machen. „Hier lernt man Unvoreingenommenheit
wie woanders Stricken oder Russisch. Es ist eine Schule der
Vorurteilslosigkeit."
Ob
man Vorurteilslosigkeit wirklich in einem Kurs lernen kann, sei
einmal dahingestellt, doch Ilka Piepgras lernt als Sterbebegleiterin
Einiges, zum Beispiel, „den eigenen Turbo-Lebensrhythmus der
langsamen Gangart eines verlöschenden Menschen unterzuordnen. Raum
und Zeit verschwinden dann, die Welt entfernt sich kolossal, und ich
trete so stark mit mir selbst in Verbindung wie sonst nie."
Natürlich
hört sie auch Hilfreiches in ihrem Kurs, jedoch: „Im Hospiz bin
ich gezwungen, mich komplett auf mich selbst zu verlassen, auf
Intuition und Instinkt. Kein akademischer Grad, kein beruflicher
Erfolg ist hier von Bedeutung, weder Status noch Reputation. Es geht
um das Leben, um seine Schwere und Schönheit", schreibt sie
in Wie
ich einmal auszog, den Tod kennenzulernen, und dabei eine Menge über
das Leben erfuhr.
Ilka
Piepgras erzählt nicht nur Geschichten vom Sterben, das ganz
unterschiedlich sein kann - langsam oder abrupt, schwer oder leicht -
, sondern auch davon, wie Hinterbliebene mit dem Tod umgehen. Etwa
Karima Banit, die ihren Sohn durch einen Motorradunfall verlor, was
ihre Sicht aufs Leben sehr verändert hat. Sie habe heute keine
grosse Angst mehr, vor gar nichts, das sei eine Art Befreiung, sagt
sie, denn schlimmer könne es nicht werden, weil sie ja die
existenzielle Erfahrung bereits gemacht habe. Der Gedanke, einmal zu
sterben, berühre sie weniger als vorher.
Was
Ilka Piepgras' Erzählen unter anderem auszeichnet, ist ihr eigenes
Präsentsein in den Geschichten, die sie schildert. Sie hört zu, ist
wissensdurstig und lernwillig. Und lässt den Leser daran teilnehmen,
was das, was sie erlebt, bei ihr auslöst, wie es auf sie wirkt.
„Plötzlich habe ich das Gefühl, als dehnte und weitete sich das
Leben. Als wäre mit dem Tod längst nicht alles vorbei. Neue Räume
öffnen sich. Vielleicht ist es an der Zeit, ein paar Schulweisheiten
über Bord zu werfen und aufgeschlossen für das Metaphysische zu
sein. Dem Verborgenen mehr Bedeutung zu geben und nicht nur dem
Aufmerksamkeit zu schenken, was man sieht und liest."
Es
versteht sich: So positiv gestimmt ist Ilka Piepgras nicht immer, sie
hat, wie wir alle, auch ganz andere Momente. Schliesslich können
Besuche in Altenheimen einen auch frustrieren. „Mich widert es an,
das Sterben und mehr noch der Verfall in der Zeit davor, das
Freudlose und Hässliche, der Stumpfsinn und die Geistlosigkeit -
kurz, das lange Warten auf den Tod. Ich habe die Nase voll von dieser
kleinmütigen Welt, die nach Urin und abgestandenem Schweinshack
riecht, habe genug von ihren ausgeleierten Körpern und notdürftig
übertünchter Hoffnungslosigkeit." Doch auch diese Gefühle,
wie Gefühle überhaupt, halten nicht an.
Wie
ich einmal auszog, den Tod kennenzulernen, und dabei eine Menge über
das Leben erfuhr hält,
was der Titel verspricht. Vom schwer kranken katholischen Theologen
und Jesuiten Medard Kehl lernt sie, dass es nicht darum geht, „was
der Verstand für wahr hält, sondern darum, wonach man sein Leben
ausrichtet. Um die Geisteshaltung." Und von der 84jährigen
Künstlerin Mary Bauermeister, die das ganze Leben als Schulprogramm,
als Gelegenheit zum Üben versteht, kriegt sie den Rat: „Tu immer
das, was den grössten Mut erfordert. Geh darauf zu, wovor du Angst
hast, und du wirst wunderbare Dinge erleben."
Es
sind solche überzeugenden Sätze, die mir dieses Buch wertvoll
machen. Weniger überzeugend empfand ich hingegen so
platt-verallgemeinernde Aussagen wie „Der moderne Mensch plant die
Entscheidung, wo und wie er sterben will, ähnlich strukturiert wie
die Entscheidung, eine Reise zu buchen oder eine neue Küche zu
kaufen." Oder: „Mit 50 schämt man sich für sein Alter, und
mit achtzig ist man, wenn es gut läuft, froh, am Leben zu sein. In
der Zeit dazwischen altert man."
Berührt
fühlte ich mich besonders von Ilka Piepgras' Schilderungen ihres
persönlichen Erlebens und Nachdenkens. Als sie einmal im August an
der französischen Atlantikküste entlangläuft, notiert sie:
„Inmitten all der Menschen, die gewaltige Brandung des Meeres im
Ohr und vor Augen, durchfuhr mich plötzlich ein Gefühl von
Vergänglichkeit, nur einen Moment lang habe ich das so empfunden,
habe physisch gespürt, wie begrenzt meine Existenz ist und wie stark
ich gleichzeitig mit meiner Umgebung verbunden bin. Ein kurzer
Moment, so durchdringend, dass er bis heute nachklingt. Ist das gut
oder schlecht? Ich weiss es nicht, aber was ich weiss, ist das hier:
Sie fühlt sich fast religiös an, diese Eingebundenheit in die reale
Welt."
Wie
ich einmal auszog, den Tod kennenzulernen, und dabei eine Menge über
das Leben erfuhr ist
ein sehr informatives, erfreulich nüchternes und
lebensphilosophisches Buch. Gedanken wie die des Theologen Gisbert
Greshake, der meint, der Mensch sei umso mehr Mensch, als er nicht um
sich selbst kreise, finde ich ausgesprochen hilfreich. Genauso wie
die Erkenntnis der Kolumnistin Lucy Kellaway: „Der Tod konfrontiert
dich mit der Frage, ob das, was du tust, auch das ist, was du tun
willst. Seine Brutalität bringt alles Gewohnte durcheinander."
Ilka Piepgras
Wie ich einmal auszog, den Tod kennenzulernen,
und dabei eine Menge über das Leben erfuhr
Droemer Verlag, München 2017