Mittwoch, 27. Dezember 2017

True to ourselves

This above all: to thine own self be true, 
and it must follow as the night the day, 
thou canst not then be false to any man
William Shakespeare

To thine own self be true. A grounding statement for those of us who get caught up in the storm of needs and feelings of others.

Listen to the self. What do we need? Are those needs getting met? What do we feel? What do we need to take care of our feelings? What are our feelings telling us about ourselves and the direction we need to go?

What do want to do or say? What are our instincts telling us? Trust them, even if they don't make sense or meet other people's rules or expectations.

Sometimes, the demands of other people and our responsibilities toward others can create a tremendous complicated mess.

We can even convince ourselves that people-pleasing, going against our nature and not being honest, is the kind, honest thing to do.

Not true. Simplify. Back to basics. Let go of the confusion. By honoring and respecting ourselves, we will be true to those around us, even if we displease them momentarily. To thine own self be true. Simple words describing a powerful task that can put us back on track.

Chuck D., 2017

Mittwoch, 20. Dezember 2017

Werde, wer du wirklich bist

Der Titel Werde, wer du wirklich bist suggeriert, dass wir so recht eigentlich noch nicht wir selber sind, dass es etwas in der Tiefe unseres Selbst gibt/geben muss, das ausgegraben und hervorgeholt werden sollte: Das Wahre Selbst.

"Wir sind für die Transzendenz, für endlose Horizonte gemacht, aber unser kleines Ego steht uns normalerweise im Weg – bis wir seine kleinlichen fixen Ideen durchschauen und uns endlich auf die Suche nach einer tieferen Wahrheit machen. Es ist wohl wie bei der Suche nach Diamanten. Wir müssen tief schürfen und zögern doch, schrecken womöglich davor zurück (...) Wir haben uns immer davongestohlen, haben uns davor gedrückt, erwachsen zu werden und uns ernsthaft auf die Suche nach unserem Wahren Selbst zu machen."

Doch was soll das sein, dieses Wahre Selbst? Für Richard Rohr, geboren 1943, ist es die Seele und das Falsche Selbst unser Ego. Über letzteres, das meist der Anerkennung, der Bestätigung durch andere bedarf, sagt der Trappistenmönch Thomas Merton: "Wenn ihr nur gelernt habt, erfolgreich zu sein, ist euer Leben wahrscheinlich sinnlos."

Doch was ist die Seele? Nichts anderes als unsere angeborene Identität, ist Richard Rohr überzeugt, und diese ist schwer zu fassen, was auch "die Klugheit des ursprünglich griechischen Wortes Psyche (Seele) offenbart: Psyche bedeutet wörtlich 'Schmetterling'". Kein Wunder also, entzieht sie sich unserem Zugriff. 

Das Wahre Selbst muss, im Gegensatz zum Falschen Selbst, weder erarbeitet noch verdient werden. "Es ist ein für alle Mal Gnade, für uns alle und für alle Zeit, ohne Ausnahme. Sie steigen nicht zu Ihrem Wahren Selbst auf. Sie fallen hinein, weshalb ich Ihnen dazu rate, das Fallen nicht ganz zu vermeiden."

Das Falsche Selbst besteht aus Äusserlichkeiten. Aussehen, Erfolg, berufliche und soziale Stellung etc., also das, wofür wir uns halten und von dem wir gleichzeitig wissen, dass das nicht alles sein kann, dass da etwas fehlt beziehungsweise etwas ganz grundsätzlich nicht stimmt in 'der Welt.' "'Die Welt' in der Bibel ist ein System wechselseitiger Schmeichelei und ständiger Belohnung des Falschen Selbst."

Immer mehr Bewohner dieser 'Welt' empfinden mehr als nur ein Unbehagen angesichts der Tatsache, dass immer weniger immer reicher und immer mehr immer ärmer werden. Viele gescheite (und weniger gescheite) Ökonomen, Soziologen und Schriftsteller haben nachdenklich machende Bücher darüber geschrieben, was "unser" System alles falsch macht   einige bleiben auf der Strecke, andere, sofern sie es vermögen, unterziehen sich einer Therapie. "Eine gute Therapie verhilft Ihnen zu Strategien, wie Sie in einer Welt überleben, die voll von Erscheinungsformen des Falschen ist, also in der öffentlichen Welt von Wirtschaft, Politik, Unterhaltung und Leistungssport." 

Die geistliche Beratung, die dem Franziskanerpater Richard Rohr (der Therapie nicht etwa ablehnt, sondern auch mit ihr arbeitet) näher steht, ist grundsätzlicher  hier geht es um eine völlige Neuausrichtung des Selbst. Seine Argumenation – wenig überraschend – gründet hauptsächlich auf biblischen Quellen (und macht einem damit auch den Reichtum der Bibel zugänglich), aber eben nicht nur. Auch Katharina von Siena, Ken Wilber, Flannery O'Connor, C.G. Jung, Bill Wilson und andere kommen zu Wort. 

So sehr ich mit des Autors zentraler Botschaft einig gehe ("Sobald Sie wissen, dass Leben und Tod nicht zweierlei sind, sondern Teil eines Ganzen, werden Sie anfangen, die Wirklichkeit auf eine ganzheitliche, nicht aufgespaltene Weise zu sehen, und aus dieser Veränderung ergibt sich alles andere."), hat mich seine Argumentation oft irritiert. Da schreibt kein Zweifler, sondern ein fest Glaubender ("Wer lebt? Das Göttliche Selbst, das immer gelebt hat, jetzt aber Sie mit einschliesst"), was natürlich nicht gegen ihn spricht, doch bei mir sofort Skepsis hervorruft, denn niemand (und das schliesst die Verfasser der Bibel mit ein) kann verlässliche Angaben über die Ewigkeit (falls es sie denn geben sollte) machen.

Nichtsdestotrotz: Werde, wer du wirklich bist ist nicht nur ein höchst anregendes, sondern ein notwendiges Buch   für Menschen, die sich wirklich mit ihrem Leben auseinandersetzen wollen. "Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass die grossen Meister wie Jesus und Buddha, der heilige Franziskus, sämtliche Teresas (die von Ávila, Lisieux und Kalkutta), Hafis, Kabir und Rumi allesamt wesentlich mehr vom Sterben reden, als wir es gern hätten. Sie alle wissen: Wenn wir die Kunst des Sterbens und Loslassens nicht früh erlernen, werden wir viel zu lange an unserem Falschen Selbst festhalten  bis es uns umbringt."

Richard Rohr
Werde, wer du wirklich bist
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2017

Mittwoch, 13. Dezember 2017

Angst selbst bewältigen

Wird ein Autor auf dem Buchumschlag mit seinem akademischen Titel vorgestellt, wird damit Sachkompetenz suggeriert, die auch durchaus vorliegen mag, wobei man sich natürlich fragen kann, was einen Mediziner zu Ratschlägen bei Angstproblemen befähigen sollte, da doch Angst so recht eigentlich keine Krankheit ist, sondern zum Leben gehört. 

Anders gesagt: Medizinische Kenntnisse drängen sich bei Angststörungen nur insofern auf, als die Abgabe von Psychopharmaka angezeigt sein mag. Für das Allermeiste, das Dietmar Hansch in diesem umfangreichen Buch aufführt, genügt der gesunde Menschenverstand. Da dieser jedoch eher selten ist, sind die vielfältigen Informationen (inklusive der medizinischen!), die man in diesem gut lesbaren Werk findet, zweifellos für viele hilfreich.

Der Autor tut, was Akademiker so gemeinhin tun. Er geht zurück in die Geschichte, trifft Unterscheidungen, sucht nach Ursachen und Definitionen. Doch darüber hinaus bietet er auch praktische Anleitungen. Gleich zu Beginn hält er Grundlegendes fest. Nämlich: "Das entwicklungsgeschichtlich junge Denken ist schwach gegenüber den alten Instinkten." Und: "Bewusstes Lernen und wiederholte Verhaltensveränderungen führen zu einem Umbau der materiellen Strukturen unseres Gehirns." Ich stehe zwar diesem Glauben an mentale Einflussmöglichkeiten skeptisch gegenüber, doch andererseits: Was bleibt uns anderes übrig, als daran zu arbeiten? Und überhaupt: Das Gehirn zu trainieren, schadet vermutlich nicht.

Dietmar Hansch ist nicht nur Medizinier, sondern auch Psychotherapeut mit verhaltenstherapeutischer Ausrichtung und leitet den Schwerpunkt Angsterkrankungen an der Privatklinik Hohenegg in Meilen am Zürichsee. Er unterscheidet Panikstörungen, Agoraphobie (Platzangst), soziale Phobie sowie generalisierte Angst und weist gleichzeitig darauf hin, dass es da natürlich Überlappungen gibt sowie dass die Ursachen äusserst vielfältig sein können. Klar macht er unter anderem, dass es ein Leben ohne Leid, Stress und unangenehme Gefühle nicht gibt. Wie also damit umgehen? Dagegen zu kämpfen, hält er für keine gute Idee, denn dadurch steigern wir das Leid nur. Ihm aus dem Weg zu gehen, ist auch nicht zu empfehlen, denn es wird uns wieder einholen. "Wenn wir es achtsam annehmen, können wir es aushalten. Wenn wir durch das Leid hindurch handeln, können wir es verhindern und persönlich wachsen."

Ich staune, wie vielfältig und verstörend sich Ängste zeigen können. So wunderte ich mich etwa über Panikattacken im Schlaf und las dann: "Nun, wie für so vieles haben wir dafür im Detail keine sichere Erklärung. Aber immerhin kann man einige Überlegungen anstellen, die eine gewisse Plausibilität haben." Es ist diese unprätentiöse und nüchterne Haltung, die mir dieses Buch sympathisch macht sowie die Tatsache, dass der Autor auch zeigt, wie er selber mit irritierenden Gefühlen umgeht: Man lese den Abschnitt "Gewöhnung hat zwei Gesichter" (Seiten 348 ff.).

Wussten Sie übrigens, was eine Psychose von einer Neurose unterscheidet? "Bei Neurosen ist das Problem die Quantität. 'Neurotiker' haben nichts, was 'Normalos' nicht auch haben, nur eben von einigem zu wenig oder zu viel: zu wenig Antrieb und zu viel Niedergeschlagenheit (Depression) und zu wenig Selbstsicherheit und zu viel Angst (Angsterkrankungen). Bei Psychosen dagegen ist das Problem die Qualität. 'Psychotiker' haben Sachen, die 'Normalos' nicht haben, z.B. Wahnvorstellungen oder das Hören imperativer Stimmen. Überdies treten die psychotischen Symptome längerfristig auf und nicht nur innerhalb kurzer Phasen extremer Erregung."

"Das Praxisbuch", so der Untertitel, hält, was es verspricht: Es bietet eine Fülle an Material und viele nützliche Übungen. Ja, so recht eigentlich könnte/sollte man das Leben als ein einziges, grosses Übungsfeld betrachten, denn auf einer solchen Grundlage akzeptiert man die Dinge, wie sie nun mal sind und versucht möglichst clever mit ihnen klarzukommen. "Life is difficult", lautet der erste Satz in M. Scott Pecks "The road less travelled". Wer das wirklich begreift, für den wird das Leben eine Herausforderung und nicht etwas, das gefälligst anders sein sollte.

Dietmar Hansch ist es damit zu tun, unseren Geist zu stärken, damit er "gegen die Gewalt starker Wellen von Angst oder anderen negativen Gefühlen" gewappnet ist. "Die methodischen Grundprinzipien, auf denen dieses Buch beruht, sind seit Jahrtausenden bewährt." Es empfiehlt sich, mit diesem Buch zu arbeiten. Und zwar in den Phasen, in denen es einem gut beziehungsweise ausreichend gut geht. 

Fazit: Lehr- und hilfreich.

Dr. med. Dietmar Hansch
Angst selbst bewältigen
Das Praxisbuch
Knaur Menssana, Münchern 2017

Mittwoch, 6. Dezember 2017

Just for Today

Just for today I will try to live through this day only, and not tackle my whole life problem at once.

Just for today I will be happy. This assumes to be true what Abraham Lincoln said, that "most folks are as happy as they make up their minds to be."

Just for today I will adjust myself to what is, and not try to adjust everything to my own desires. I wiil take my "luck" as it comes, and fit myself to it.

Just for today I will try to strengthen my mind. I will study. I will learn something useful. I will not be a mental loafer. I will read something that requires effort, thought and concentration.

Just for today I will exercise my soul in three ways; I will do somebody a good turn, and not get found out; if anybody knows of it, it will not count. I will do at least two things I don't want to do - just for exercise. I will not show anyone that my feelings are hurt; they may be hurt, but today I will not show it.

Just for today I will be agreeable. I will look as well as I can, dress becomingly, talk low, act courteously, criticize not one bit, not find fault with anything, and not try to improve or regulate anybody but myself.

Just for today I will have a programme. I may not follow it exactly, but I will have it. I will save myself from two pests: hurry and indecision.

Just for today I will have a quiet half hour all by myself, and relax. During this half hour, sometime, I will try to get a better perspective of my life.

Just for today I will be unafraid. Especially I will not be afraid to enjoy what is beautiful, and to believe that as I give to the world, so the world will give to me.

Mittwoch, 29. November 2017

Endlichkeit & Augenblick

"Leben und Tod kommen immer im Paket –  das eine erhält man nicht ohne das andere", leitet Frank Ostaseski, Mitbegründer des ersten Zen-Hospizes in den USA, seinen Ratgeber Die fünf Einladungen ein. Der Untertitel verdeutlicht, worum es ihm geht Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben. 

Wir alle wissen, dass wir einmal sterben werden. Die gängigste Art und Weise, damit umzugehen, ist die Verdrängung, manchmal retten wir uns auch in den Humor – auf die Frage: Wie seine Einstellung zum Tod sei?, antwortete Woody Allen einmal: Ich bin total dagegen – , die vermutlich wenigsten setzen sich ernsthaft damit auseinander. Frank Ostaseski, massgeblich beeinflusst von Elisabeth Kübler-Ross und Stephen Levine, plädiert für Letzteres.

"Ohne den Tod als Mahner neigen wir dazu, das Leben für etwas Selbstverständliches zu halten, und verlieren uns häufig in der endlosen Jagd nach Bedürfnisbefriedigung. Wenn wir den Tod öfter im Bewusstsein haben, klammern wir uns nicht mehr so sehr am Leben fest." Anders gesagt: Das Leben ist ein Wunder, das jeden Moment stattfindet. Weshalb denn auch die erste von Frank Ostaseskis Einladungen lautet: "Warte nicht."

Das einzig Beständige ist bekanntlich der Wandel. Obwohl wir das wissen, leben wir nicht gemäss dieser Wahrheit. Das ist nicht nur erstaunlich, sondern so recht eigentlich unerklärlich, denn wenn wir wirklich genau hinschauen, werden wir feststellen, dass es gar nichts anderes gibt als diesen Wandel. Wer erkennt, dass er/sie vergänglich ist und seine/ihre Lebensumstände im Fluss sind, wird eine Übereinstimmung mit dem Gesetz von Wandel und Werden erleben.

Es ist überaus hilfreich, "Zuflucht in der Vergänglichkeit zu suchen. Also nicht in der Erwartung, dass sich die Dinge so entwickeln, wie wir es erhoffen oder befürchten, sondern in der Tatsache, dass sie sich auf jeden Fall ändern, ob wir das nun wollen oder nicht."

Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben erzählt ganz viele Geschichten, die dieses "Warte nicht" (wie auch die anderen Einladungen Frank Ostaseskis) eindrücklich illustrieren. Mich haben viele von ihnen angeregt, meine Aufmerksamkeit auf diesen ständigen Wandel zu richten – indem ich mich etwa auf das Pumpen des Herzens und das Ein- und Aus-Atmen konzentrierte sowie mir (recht erfolglos) zu vergegenwärtigen versuchte, dass bei einem erwachsenen Menschen jede Sekunde 50 Millionen Zellen absterben und fast genau so viele neu entstehen. Aber eben nur fast, denn der erwachsene Mensch baut nach und nach ab.

Das Leben gehört konfrontiert. Vorbehaltlos. Frank Ostaseski zeigt an vielen Beispielen, wie das geht. Dabei gibt er nicht den über der Sache stehenden Experten, sondern zeigt sich auch mit seinen Schwächen. Das ist überaus sympathisch, auch wenn es manchmal etwas gar lieb und nett zu und her geht. So fühlte er sich nach einer schweren Herzoperation unattraktiv wie auch nicht mehr liebenswert und machte sich darüber hinaus Sorgen, man würde ihn vergessen. "Glücklicherweise war ich von Menschen umgeben, die mich trotz alledem liebten. Mein Name wurde überall in den buddhistischen Zentren auf die Altäre gesetzt, und meine Freunde und Schüler chanteten meinen Namen bei ihren Gebeten und Praktiken."

So einleuchtend und nützlich ich viele seiner Ausführungen finde, bescheiden ist der Mann nicht, der als "Der bedeutendste Vertreter der Hospizarbeit" auf dem Buchumschlag vorgestellt wird. Sicher, das mag der Verlag zu verantworten haben, doch er lobt sich auch gerne selber. "Im Jahre 2004 gründete ich das Metta Institute zur Förderung achtsamer, mitfühlender Sterbebegleitung. Ich brachte grosse Lehrer zusammen, darunter Ram Dass, Norman Fischer, Rachel Naomi Remen und andere, die einen Lehrkörper von Weltklasse bildeten." Weltklasse in Sachen Sterbegleitung?

Irritierend fand ich überdies des Autors festen Glauben "an unser grundlegendes Gutsein als Menschen" (grundlegend ist meines Erachtens eher unser unbedingter Lebenswille) sowie seine Überzeugung, die Wahl der Worte würde auch unser Handeln bestimmen. "Meine Freundin Rachel Naomi Remen drückt dies besser aus als jeder andere, wenn sie schreibt: 'Helfen, Reparieren und Dienen sind drei unterschiedliche Arten, die Welt zu verstehen. Wenn du hilfst, siehst du das Leben als etwas Schwaches. Wenn du reparierst, siehst du das Leben als etwas Zerbrochenes. Wenn du dienst, siehst du das Leben als etwas Ganzheitliches. Reparieren und Helfen mag Aufgabe des Egos sein, Dienst ist die Aufgabe der Seele."

Eine der für mich bewegendsten Geschichten in diesem Buch ereignete sich anlässlich eines Workshops, den Frank Ostaseski in Berlin leitete. Eine Frau meldete sich: "Ich habe Ihnen zugehört, als Sie über Vergebung sprachen. Aber mein Vater war Gefangener in den Konzentrationslagern, und ich kann seinen Mördern nicht vergeben. Mein Herz ist wie aus Eis." Stille. Eine andere Frau meldete sich: "Mein Herz ist auch wie aus Eis. Es fühlt sich an wie ein Stein. Mein Vater war Nazi-Offizier und als Wachmann in den Lagern. Ich weiss, dass er Menschen getötet hat. Ich kann ihm nicht vergeben." Wiederum Stille. Dann bahnten sich die beiden Frauen den Weg durch den grossen Sitzungssaal mit 250 Menschen und umarmten sich wortlos.

Die fünf Einladungen: Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben ist ein höchst empfehlenswerter Ratgeber, reich sowohl an praktischen Anregungen als auch an erstaunlichen und berührenden Geschichten, die das Leben geschrieben hat.

Frank Ostaseski
Die fünf Einladungen
Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben
Knaur Menssana, München 2017

Mittwoch, 22. November 2017

Eine Reise ins Leben

Ich gehe dieses Buch voreingenommen an. Einerseits kommt es mir vor, als ob es zur Zeit gerade gar viele Bücher zum Thema 'Wie uns die Angst vor dem Tod zu leben lehrt' gebe, andererseits kann ich mir nicht recht vorstellen, was mir eine (im Vergleich zu meinen fortgeschrittenen Alter) noch recht junge (1981 geborene) Frau über das Leben und den Tod beibringen soll. Doch waren diese Bedenken bereits nach den ersten paar Seiten von Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, die Angst vor dem Tod zu überwinden wie weggeblasen. 

"Alle meine Lebensjahre hindurch habe ich gelernt, mir Dinge angeeignet, mich weitergebildet, ich habe mich aufgerappelt, nach jedem Schicksalsschlag und jedem Schmerz, immer wieder, und das soll das Ergebnis sein? Der Tod? Nein, damit finde ich mich nicht ab. Ich kann nicht. Und das ist ein Problem. Ich kann nämlich nicht mehr schlafen. Ich kann mich nicht entspannen. Ich kann mich nicht loslassen."

Sie tut, was sie tun kann und beginnt, "sich mit dem eigenen Sterben zusammenzudenken." Sie besucht das Leichenschauhaus, den Vortrag eines Kriminalbiologen und setzt sich mit der Beerdigung von Helmut Schmidt auseinander. Sie tut, was Journalisten eben so tun – sie recherchiert. 

Dabei stösst sie auch auf die Top-Ten-Liste der gefragtesten Lieder bei Beerdigungen. 2015 stand 'Time  To Say Goodbye' von Sarah Brightman auf Platz 1 und 'Air Suite Nr. 3 von Johann Sebasian Bach auf Platz 10. Saskia Jungnikl kommentiert: "Ein paar davon kann ich nachvollziehen, so wie Bach, die meisten davon nicht. Ich finde ja 'Here comes the Sun' von George Harrison schön oder auch 'Happy days are here again' von Charles King. Doch beide höre ich lieber jetzt gleich und lebend, als zu wissen, dass sie dann alle anderen hören, während ich tot bin."

Da die meisten Menschen an einer Krankheit sterben, beschliesst Saskia Jungnikl etwas für ihre Gesundheit zu tun. Sie  geht ins Fitnesscenter und merkt, Sport kann gut tun. Auch überlegt sie sich, reich zu werden sowie einen Wohnortswechsel vorzunehmen, denn ihre Internet-Recherchen haben ergeben, dass Reiche länger leben und die Lebenserwartung geografisch variert.

Ich fühlte mich sofort in dieses mit viel Witz und Humor geschriebene Buch hineingezogen, doch so gelungen der Einstieg ist, die Autorin verliert sich leider bald und immer mal wieder, erzählt vom Geburtstag der Mutter auf der Rax, einem Berg in Österreich, von ihrer Heirat und vom Umziehen, gibt Tipps für Trauernde und äussert allerlei Allerweltsgedanken, die uns allen hin und wieder durch den Kopf gehen und nicht weiter bringen. "Die schönen und glücklichen Momente muss man sich selbst schaffen. Es gibt keine ausgleichende Gerechtigkeit, die sich von selbst einstellt."

Glücklicherweise findet sie immer wieder zurück, setzt sich mit Philosophen auseinander, zitiert Studien, die sie alle ernst zu nehmen scheint, listet skurille Todesfälle auf, plädiert dafür, sich zu öffnen und über das zu reden, was einen wirklich beschäftigt und und und ... mir gefällt diese wunderbare vielfältige Mischung aus Banalem, Durchdachtem und manchmal wenig Durchdachtem. So zitiert sie etwa eine Studie der Mayo-Klink, gemäss welcher "vor allem die 65- bis 80-jährigen Teilnehmer von einem Intervalltraining profitiert hatten", woraus Saskia Jungnikl schliesst: "In Sardinien etwa werden die Menschen auch deswegen so alt, weil sie in Bergdörfern oft auf und ab steigen müssen – Intervalltraining wie aus dem Lehrbuch." Anzufügen wäre: Im bolivianischen La Paz (Höhenlage zwischen 3 200 bis 4 100 Meter) ist das hingegen nur zu empfehlen, wenn man den Schwindel nicht scheut.

Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, die Angst vor dem Tod zu überwinden thematisiert auch, wie aus der Angst vor dem Tod ein Geschäft gemacht wird: "Die medizinische Überversorgung von Menschen am Lebensende ist ein Milliardenmarkt. Ein Drittel der Gesundheitskosten entsteht allein im letzten Lebensjahr. Ein Drittel!" Und überhaupt: "Wenn eine Gesellschaft das Altern als Krankheit versteht, wie soll sie dann gelassen und würdevoll altern?"

Meine persönlichen Highlights sind das Kapitel "Lebe", eine starke, intensive Schilderung vom Laufen, sowie diese ganz unspektakuläre Schilderung (bei der es nicht um den Champagner geht!), die schön illustriert, dass sich Zeit zu nehmen das wohl beste Mittel gegen die laufend weniger werdende Lebenszeit ist. "Ich nehme eine Flasche Champagner, die seit Monaten im Kühlschrank liegt, und mache sie auf. Ich habe keinen Anlass. Nur den Moment. Ich sitze auf der Couch, ohne Handy, ohne Fernsehen, ohne Buch oder Zeitschrift. Ich trinke und sitze und schmecke und spüre in mich hinein."

Saskia Jungnikl
Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, 
die Angst vor dem Tod zu überwinden 
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2017

Mittwoch, 15. November 2017

Die Weisheit eines Yogi

Sadhguru, geboren im südindischen Mysore als Sohn eines Arztes und einer Hausfrau, war ein neugieriges Kind, das die Schule öde fand, und lieber auf eigene Faust die Welt erkundete. Und sich wohl nicht zuletzt deswegen zu einem sehr eigenständigen Denker entwickelt hat.

Die Frage nach dem Was und Warum hat ihn nie interessiert, ihn beschäftigte immer nur das Wie. Er lernte, "einfach ohne jedes Motiv hinzuschauen", eine Fähigkeit, die heute in der Welt fehlt. Und er begriff, dass wie er sein Leben leben wollte, in seiner Hand lag.

Ursprung und Basis jeder menschlichen Erfahrung liegt in unserem Inneren. "Jede menschliche Erfahrung ist zu hundert Prozent von uns selbst geschaffen." Und das bedeutet, das wir unser Schicksal selber gestalten.

Als ein Teilnehmer einer internationalen Konferenz über Armut auf der Erde, provokativ fragte: "Wieso versuchen wir überhaupt, solche Probleme zu lösen? Ist das nicht alles der göttliche Wille?" antwortete Sadhguru: "Tja, wenn jemand anders stirbt oder hungrig ist, muss es wohl der göttliche Wille sein. Aber wenn Ihr eigener Magen leer ist, wenn ihr eigenes Kind an Hunger stirbt, werden Sie doch etwas unternehmen, oder etwa nicht?"

Sadhguru ist praktisch unterwegs, theoretische Überlegungen hält er für wenig relevant, persönliche Verantwortlichkeit ist ihm zentral. "Bei Verantwortlichkeit geht es schlicht um deine Fähigkeit, bewusst zu reagieren. Wenn du beschliesst: 'Ich bin verantwortlich', dann besitzt du diese Fähigkeit; wenn du beschliesst: 'Ich bin nicht verantwortlich', dann besitzt du sie nicht."

Das ist nicht einfach eine Wort- oder Gedankenspielerei, das ist eine Realität, denn: "Sobald du dich verantwortlich fühlst, wirst du unweigerlich Möglichkeiten erkunden, mit der Situation umzugehen. Du wirst nach Lösungen suchen. Wenn du diese Haltung häufig einnimmst, verbessert sich kontinuierlich deine Fähigkeit, deine Lebenslage zu gestalten."

Jeder Mensch, so Sadhguru, lebe ständig in einem Zustand des Mangels. Nichts sei ihm genug, immer wolle er mehr. Sein wahres Bedürfnis sei jedoch grenzenlose Ausdehnung. "Die meisten Menschen sind sich der Natur ihrer Sehnsucht nicht bewusst. Wenn diese einen unbewussten Ausdruck annimmt, sprechen wir von Gier, Bestreben, Ehrgeiz. Findet unsere Sehnsucht hingegen einen bewussten Ausdruck, nennen wir das Yoga."

Im Yoga geht es um Selbstharmonisierung. Wie man diesen bewussten Weg der Selbstentdeckung und Selbstfindung geht, erläutert Sadhguru im zweiten Teil dieses Buches. Dabei stellt er auch Sadhanas (Übungen) vor, die ich wunderbar hilfreich finde. Hier ein Beispiel:

"Setze dich einige Minuten vor eine Pflanze, zum Beispiel einen Baum. Erinnere dich daran, dass du das einatmest, was er Baum ausatmet, und das ausatmest, was der Baum einatmet. Auch wenn das keine bewusste Erfahrung darstellt, kannst du so eine geistige Verbindung zu diesem Baum herstellen. Du kannst das mehrmals täglich wiederholen. Nach einigen Tagen wirst du dich allmählich mit allem, was dich umgibt, auf eine neue Weise verbinden. Das wird nicht auf einen einzelnen Baum beschränkt sein."

Die Weisheit eines Yogi ist nicht nur ein eindrücklicher Augenöffner, sondern auch eine überzeugende praktische Anleitung für ein bewusstes und selbstbestimmtes Leben.

Sadhguru
Die Weisheit eines Yogi
Wie innere Veränderung wirklich möglich ist
O.W. Barth, München 2017

Mittwoch, 8. November 2017

Death of a Policeman

On Tuesday, 26 January 2010, one day before the opening of the World Economic Forum (WEF) in Davos, Switzerland, Markus Reinhardt, 61, the head of police of the Swiss canton of Graubünden and chief of security at the WEF, was found dead in his hotel room. He had killed himself with his service weapon.

Markus Reinhardt had had "an alcohol problem" for quite some years, his superiors knew about it. His direct boss, the director of the Department of Justice, Barbara Janom Steiner, stated during a press conference: "His alcohol problems never affected his work".

Now the media became active in their typical fashion.

The Tages-Anzeiger in Zurich interviewed Roberto Zalunardo, the Secretary General ad interim of the Association of Swiss Police Chiefs, who said that these chiefs are under a lot of pressure, that it is very lonely at the top and that they need of course to be able to deal with all that. The reader was left with the impression that the ones who were not able to deal with this kind of pressure might turn to alcohol.

Then, the Aargauer-Zeitung interviewed the former chief of police of the Canton Aargau, Léon Borer, who said that Reinhardt's "alcohol problem" had been known for several years and that "the man could have been saved". How this could have been accomplished, he did not elaborate on.

And then, on 19 February 2010, the Tages-Anzeiger ran a story that challenged the view of Reinhardt's boss, Janom Steiner, that his alcoholism had not affected his job performance by citing several incidences - he had shown up intoxicated at work, had driven his car under the influence of alcohol, he was involved in a car accident and had seen to it that there were no offical records etc. etc.

But let me stop here. For we all know this kind of story, don't we? The government officials give you their lines, some brave journalists make efforts to unmask what they perceive to be a cover-up, and sometimes the truth does prevail ...

Well, this is the usual government/media-theatre and the problem with it is that we are supposed to take it seriously. Let me elaborate: The government of Graubünden said, among other things, that "it thought it important to distinguish between work performance and private life". No one in the press questioned this work/private life distinction. If however Mr. Reinhardt really was an alcoholic (and it surely looks that way) then such a distinction is ludicrous because an alcoholic too often cannot control his impulses (and not only when it comes to alcohol) - and that does not depend on whether he or she is at work or not.

So what did the media do? (by the way, no, I did not check whether all the media performed in exactly the same way). They tried to challenge the claim that Mr. Reinhardt's job performance was impeccable ... and in so doing fell for the trap that the government had laid out for them: the totally absurd distinction between work life and private life, that is.

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An alcoholic is an alcoholic is an alcoholic. And that means that too often he cannot control his impulses (and that is not limited to drinking) – whether he is at work or at home. In addition, and this makes him especially unpredictable, he's the typical Dr Jekyll and Mr Hyde kind: most of the time he's totally in control of himself until, all of a sudden, he completely loses it.

An alcoholic is dis-eased, in all aspects of his life. Everybody knows that. So why then do governments and media offer us such an absurd spectacle and act as if a dictinction can be made between private and professional life? Because they do what we all do: they rationalise their behaviour, justify their acts and their non-acts; they pretend to have under control what can't be controlled. Because to live with the truth seems unbearable. And when it comes to addicition, the truth is this: we do not know what triggers it, we do not know how to stop it, we are mostly powerless against it. 

If an alcoholic remains sober after treatment, therapists believe that the treatment has been successful; if an alcoholic however relapses, he is considered unfit for therapy. Fact is that nobody can really say why some (estimates range from seven to seventeen percent) can stop their drinking and others can't.

Established therapies assume that understanding the causes of our acts might lead to behaviour change. If I know why I drink I can influence my drinking. This is wishful thinking for every cause that I will find (that I like, that pleases me) can be a cause for drinking as well as for non-drinking. Which is why in AA they say that there are exactly seven reasons why somebody drinks: Monday, Tuesday, Wednesday, Thursday, Friday, Saturday, Sunday.

There is no general agreement about the nature, cause, or treatment of alcoholism“, Arnold M. Ludwig (The Alcoholic's Mind) states and the adds: „What is an alcoholic?Where does one draw the line between problem drinking and alcoholism, between alcohol dependence and addiction? Is alcoholism a disorder or a collection of disorders? Ist it a moral failing, a bad habit, or a disease? Do alcoholics have distincts personality features? Is alcoholism hereditary or learned? Does excessive drinking represent a symptomatic expression of an underlying conflict or is it the primary problem itself? Which treatment approach, if any, is most effective? Who is best qualified to help? The question can go on and on. There are no scientific answers.“

It cannot be proven whether therapy works - by a cause-and-effect methodology, that is. That however does not mean that therapy does not work. The fact that miracles can't be proven does not mean that miracles do not exist, it only means that the accepted means of proof are useless. Besides, therapy helps the therapists to have work and earn money. By the way, good therapists know that when their patients are getting better they are sometimes witnessing a miracle of which the Senegalese Wolof say, „nit nit ay garabam“, man is man's medicine.

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That the boundaries between propaganda and journalism are blurred is well known. Also, that lots of journalists are seldom more than propagandists. The problem is that they do not know it, that they are not aware of it.

When Brian Eno first visited Russia, in 1986, he made friends with Sacha, a musician whose father had been Brezhnev's personal doctor: "One day we were talking about life during "the period of stagnation" — the Brezhnev era. "It must have been strange being so completely immersed in propaganda," I said. "Ah, but there is the difference. We knew it was propaganda," replied Sacha. "That is the difference. Russian propaganda was so obvious that most Russians were able to ignore it. They took it for granted that the government operated in its own interests and any message coming from it was probably slanted — and they discounted it."

We decide something, put it out there and wait a while in order to see what will happen. If there won't be a big outcry and no resistance, because most do not understand what has been decided, then we continue – step by step, until there's no more going back“, Jean-Claude Juncker, an influential European politician from Luxemburg is quoted in Eva Herman's „Die Wahrheit und ihr Preis“ (The Price of Truth). This is not only how facts ( „fact“ stems from the Latin „facere“ = to make) are created, this is also how the agendas are set that invariably get picked up and propagated by the media.

Let's get practical: Everybody believes that for alcoholics treatment is better than punishment. This is due to the combined propaganda of psychologists and journalists. In the case of psychologists the reason is obvious – they have to make a living; in the case of journalists it can be explained with their pack-mentality. Moreover, as the linguist Geoffrey K. Pullum stated: Once the public has decided to accept something as an interesting fact, it becomes almost impossible to get the acceptance rescinded. The persistent interestingness and symbolic usefulness overrides any lack of factuality.“

This does not mean that punishment is preferable to treatment; this means that whoever believes that treatment might be the solution has very probably a too grand idea of what treatment can do for it is a field full of paradoxes and contradictions. No wonder if you consider the following (from Arnold M. Ludwig's The Alcoholic Mind):

* "Hitting bottom" is presumed to be a necessary step for recovery. even though being in dire straits, for all other illnesses, usually indicates a poor rather than favourable diagnosis.

* In many hospital treatment settings, alcoholics are immediately discharged from the program if they are presumed to be uncooperative, unmotivated, setting poor examples for others, or if they are found to be intoxicated or drinking on the premises. In other words, they are not regarded as suitable for treatment if they show evidence of their sickness; namely, an inability to control their drinking. The catch-22 is that they must remain sober in order to receive help.

* Alcoholics are regarded as "sick" - at least for purposes of hospitalization or treatment - but society tends to hold them responsible for their transgressions or crimes.

* Because alcoholism is regarded as a "disease", certain therapeutic agencies do not hold alcoholics responsible for the harm caused by past drinking, but they do regard them as responsible for their present and future behaviors, an important and interesting distinction.

* Alcoholism is a "disease" in which characteristic symptoms, such as urges and cravings to drink, can appear mysteriously at certain times, for example, during evenings and weekends, and be absent at others, as at work or at church. With the exception of other addictions, what medical diseases are so dependent on the mental expectations of the sufferers and the physical settings in which they exist?

Given this, it is difficult to imagine a more ignorant reaction than the one of the government of Graubünden. It apparently thought it sufficient that the head of police had agreed to measures set out by a medical doctor in order to „make Reinhardt master of his problem“. The media, in their usual fashion, saw to it that this ignorance was properly disseminated.

PS: In March 2000, Markus Reinhardt had ordered a finishing shot aimed at a young man who had been shooting at random on people on the streets of Chur, the capital of Graubünden. As a consequence, Reinhardt was indicted for willful homicide – he was later acquitted. The Süddeutsche Zeitung commented on 27 January 2010: „This finishing shot has never left him, said his longtime companion, national congressman Pius Segmüller to the tabloid Blick: „Since then he had certain problems. In the end it was all too much for him."

Mittwoch, 1. November 2017

Der Natur und sich selbst begegnen

Amy Liptrot ist auf den Orkneyinseln aufgewachsen, einer vom Meer umtosten, windgepeitschten Inselgruppe im Norden von Schottland zwischen Nordsee und Atlantik. Der Hof der Eltern liegt auf der Hauptinsel, auf demselben Breitengrad wie Oslo und Sankt Petersburg. Der Vater leidet an Depressionen und landet zeitweise in der Psychiatrie, die Mutter rettet sich in den Glauben, sie selber flüchtet nach London und in den Alkohol. "Ich trank, bis ich wie tot vor mich hin stierte."

Ihr Trinken wird von Jahr zu Jahr schlimmer. "Das Trinken ergriff von mir Besitz. Während andere arbeiteten und auf Pubabende verzichteten, um die nächste Stufe hinaufzuklettern, leerte ich Bierdosen am Telefon und unterdrückte das Geräusch beim Öffnen, während ich von unerfüllten Ambitionen erzählte."

Sie unternimmt ernsthafte Versuche mit dem Trinken aufzuhören, jedes Mal hält sie etwa einen Monat durch. Schliesslich beschliesst sie, das Trockenwerden an die erste Stelle zu stellen. Sie gibt  ihren Job auf, geht zum Arzt und wird an die örtliche Drogenberatung weiterverwiesen. In der Therapie, die auf dem Programm der Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker (AA) basiert, lernt sie unter anderem: "Ich werde meine Leben lang anfällig bleiben für Rückfälle und andere Formen von Sucht."

Das Entzugsprogramm ist hart, die wenigsten schaffen es. Sie lernt: Jedes Verlangen ist temporär, immer geht der Drang zu trinken vorüber. Die Gruppengespräche sind hilfreich. "Zu hören, wie Leute im Gefängnis gelebt hatten, in Krankenhäusern, unter fahrendem Volk, in Grossfamilien in Russland oder in Stepney Green zeigte mir Erfahrungswelten, die Lichtjahre entfernt waren von denen mediengesättigter Hochschulabsolventen und ihrem Genörgel auf Twitter."

Sie schafft den Entzug, doch das ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang, denn wirklich schwierig ist es, trocken zu bleiben. Sie merkt, dass London nicht mehr richtig ist, sie geht zurück nach Orkney, dahin, wo sie sich nie zugehörig gefühlt hat – und wird wieder zum mürrischen Teenager. Doch sie trinkt nicht und weiss, dass jedes Mal, wenn sie darauf verzichtet, obwohl ihr danach ist, sie neue Nervenbahnen im Gehirn stärkt.

 Sie beschliesst, einen Winter auf Papay zu verbringen, einer der kleinsten bewohnten Inseln im äussersten Norden von Orkney, sechseinhalb Kilometer lang, gut anderthalb Kilometer breit, 70 Einwohner. "Es ist ein Trugschluss zu glauben, Insulaner könnten 'allem entfliehen': An einem so kleinen Ort müssen wir mit unseren Nachbarn mehr Kontakt pflegen als in der Stadt. Im Grossen und Ganzen kommen wir gut miteinander aus."

Die Nachrichten auf der Insel drehen sich ums Wetter, nicht um Politik. Auch wenn sie es gelegentlich vermisst, "zu sehen und gesehen zu werden, und das Gefühl, dicht am Zentrum des Geschehens zu sein", gibt es in Papay jeden Tag einen Moment, an dem ihr das Herz aufgeht. "Wenn ich mich umdrehe zum Beispiel, das Gesicht in den Nordwind halte und den Küstensaum betrachte, an dem ich gerade entlanggelaufen bin. Ich sehe Schwärme von Stärlingen, Hunderte einzelne Vögel, die sich zu fliessenden geometrischen Gebilden formieren und umformieren, um ihre Feinde auszutricksen, und einander folgen, um einen sicheren Platz für die Nacht zu finden."

Von einer Sucht zu genesen, bedeutet mit sich und seiner Umwelt ins Gleichgewicht zu kommen. Dafür ist innere Sammlung nötig und diese ist nicht für alle gleich, den einen helfen AA-Treffen, anderen Meditation und Amy Liptrot tut es vor allem gut, sich in der Natur zu bewegen (man kann das natürlich auch alles abwechselnd tun). "In Bewegung zu sein, beruhigt mich. Mein Körper ist beschäftigt und mein Geist frei."

Sie beginnt sich für Astronomie zu interessieren, geht nachts raus um Sterne zu gucken, lernt Dinge, die ihr gefallen, zum Beispiel, "dass sich peripheres Sehen am besten dazu eignet, in weite Ferne zu sehen – weil ein Gegenstand mitunter verschwindet, wenn man ihn direkt ansieht." Indem sie die Welt kennenlernt, lernt sie sich selber kennen. Es ist eine echte Bereicherung, an Amy Liptrots vielfältigen Entdeckungen teilhaben zu dürfen.

Sie setzt sich auch intensiv mit den Zwölf Schritten der AA auseinander, obwohl sie sich hauptsächlich auf ihre eigenen Therapieformen  Wandern und Schwimmen – verlässt. Sie weiss jetzt, dass Trinken keine Probleme löst und dass 'trocken zu werden' kein Moment ist, "nach dem alles besser wird, sondern ein andauernder, langsamer Prozess des Wiederaufbaus, mit regelmässigen Rückschritten, Schwankungen und Versuchungen." 

Sich dem Leben zu stellen, erfordert Mut. Nachtlichter ist ein höchst eindrückliches Dokument dieses Mutes.

Amy Liptrot
Nachtlichter
btb Verlag, München 2017

Mittwoch, 25. Oktober 2017

CLEAN: Sucht verstehen und überwinden

"Ein revolutionärer Erklärungsansatz und neue Chancen für die Therapie", verspricht der Untertitel von CLEAN: Sucht verstehen und überwinden und natürlich bin ich skeptisch, wenn der behauptete revolutionäre Erklärungsansatz dann auch noch auf der New York Times-Bestsellerliste landet, denn die New York Times und ihre Leser sind eher dem Bewahren (dem Establishment) und weniger der Revolution zuzurechnen.

Neugierig machte mich hingegen die Autorin, denn diese war früher selbst heroin- und kokainabhängig – und für Menschen, die ihre eigene Sucht zum Stillstand gebracht haben, habe ich ein offenes Ohr. Zudem: CLEAN: Sucht verstehen und überwinden erzählt nicht einfach die Geschichte von Maia Szalavitz, sondern berichtet auch von vielfältigen Erkenntnissen aus mehr als 25 Jahren Suchtforschung.

Wer versuche, Sucht präzise zu beschreiben, entdecke schnell, dass die meisten Erklärungen unwissenschaftlich seien, schreibt sie  mir selber ist solche Wissenschaftsgläubigkeit fremd. Maia Szalavitz versteht unter Sucht "ein fehlangepasstes Bewältigungsverhalten, das trotz andauernder negativer Folgen beibehalten wird" und führt aus: "Das Problem mit der heutigen Einstellung zur Sucht besteht darin, dass wir die Bedeutung des Lernens ignorieren und versuchen, die Sucht als medizinische Störung oder moralisches Versagen abzustempeln, obwohl das unpassend ist, und dass wir den runden Pflock ignorieren, den wir in das quadratische Loch getrieben haben."

Es ist beeindruckend, wie viel Wissen (nicht nur über Sucht, sondern über ganz viele seelische Schwierigkeiten) Maia Szalavitz zusammengetragen hat. So erfährt man unter anderem, dass es in Ungarn und Finnland mehr Depressive (inklusive hoher Suizidraten sowie viel Alkoholmissbrauch) gibt als anderswo, aus genetischen Gründen. Zudem ist ungemein berührend, wenn sie von ihrem eigenen Aufwachsen berichtet. "Das Wort 'intensiv' beschrieb nicht nur äusserst genau, wie ich die Welt wahrnahm; es war zudem eines der Adjektive, die andere am häufigsten benutzten, um mich oder mein Verhalten zu beschreiben. Als Teenager kämpfte ich ständig um mehr Lockerheit."

In den USA bildet das 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker (AA) den Kern der Therapie der meisten Drogenprogramme. Obwohl die 12-Schritte, die Maia Szalavitz als christliche Suchttherapie charakterisiert, ihr halfen, die ersten fünf Jahre ihrer Genesung durchzustehen, ist sie keine Befürworterin des Programms. "Es gefiel mir nicht, dass Menschen gezwungen wurden, 'ganz unten' zu landen, und dass Moral und Medizin vermischt wurden." Nun ja, die Lösung findet sich im AA-Spruch, den sie auch selber zitiert: "Nimm, was dir gefällt, und lass den Rest liegen."

CLEAN: Sucht verstehen und überwinden richtet sich hauptsächlich an nordamerikanische Leser, denn nur dort gibt es die institutionalisierte 12-Schritte-Therapie, zu der auch Straftäter von Richtern verdonnert werden können. Solcher Zwang dürfe weder Mittelpunkt des Entzugs noch Teil einer professionellen Behandlung sein, meint die Autorin. Recht hat sie, obwohl man sich fragen kann, weshalb denn Zwang einen so ausschliesslich schlechten Ruf hat  ohne inneren oder äusseren Druck (das verstehe ich unter Zwang) wird wohl kaum jemand sein Verhalten ändern.

Maia Szalavitz' Hochachtung vor Studien und Experten, die das ganze Buch durchzieht, finde ich befremdlich. "Niemand würde einem Gehirnchirurgen trauen, dessen einzige 'Ausbildung' darin bestand, dass ihm ein Tumor entfernt wurde. Ebenso dürfen wir nicht glauben, dass ein ehemaliger Süchtiger ein Experte ist." Derart Äpfel mit Birnen zu vermischen (eine Operation, die auch ausgeprägte handwerkliche Fähigkeiten verlangt, ist wohl kaum mit einem Beratungsgespräch zu vergleichen), ist schon recht abstrus, nicht zuletzt, da die Autorin selber mit Hilfe ehemaliger Süchtiger genesen ist. Auch scheint sie die Medizin für eine Wissenschaft zu halten, doch obwohl diese mit wissenschaftlichen Methoden arbeitet, ist sie es nicht (siehe auch: Gesetze der Medizin).

CLEAN: Sucht verstehen und überwinden wehrt sich gegen Stigmatisierung und plädiert für neurologische Vielfalt. Neurologische Unterschiede, die etwa zu Autismus oder anderen diagnostizierbaren 'Störungen' führen, verdienen genauso unseren Respekt wie alle anderen Unterschiede zwischen Menschen. "Wenn wir das Verlangen und den Drang, die bei Süchtigen fehlgeleitet werden, in die richtige Richtung lenken, sind die Ergebnisse erstaunlich."

Maia Szalavitz
CLEAN: Sucht verstehen und überwinden
Ein revolutionärer Erklärungsansatz
und neue Chancen für die Therapie
mvgverlag, München 2017.

Mittwoch, 18. Oktober 2017

"Heute setz ich mir den Todesschuss"

Sieberts haben einen Sohn, der ihnen Ehre macht, und einen, der für den Vater "auf deutsch gesagt: gestrauchelt ist". Als eine erträgliche Balance können Sieberts das nicht empfinden. Herr Siebert hat als Kabelverleger in Postschächten angefangen und wurde dann Beamter im Telegraphenamt.

Sein durch diese Steigerung angehobenes Selbstgefühl und das Behagen an seinem Ältesten, der Medizin studiert, sind versickert in dem Kummer um Manfred. Manfred, der Manni genannt wird und in den Erzählungen seiner Mutter "mein Jenner" heißt, ist heroinsüchtig.

Sieberts wohnen jetzt im Kadettenweg in Berlin-Lichterfelde. Aus der Afrikanischen Straße im Wedding sind sie weggezogen, weil sie sich wegen Manni schämten. Anfang der Siebziger, sagt der Vater, gab's ja noch kein Massensterben in den U-Bahn-Toiletten, da stand noch nicht der Tote des Tages in der BZ.

Manni, fanden seine Eltern, war als Schande einzig. "Herr Siebert", haben welche aus dem Haus gesagt, "so 'n Neubau hat Ohren, wie wär's denn mit Dämmplatten?" Der Manni, sagt Siebert, hat ja infernalisch kotzen müssen. Der ist laut gestorben; und damit er nicht wegmacht, haben wir die Feuerwehr gerufen. Und die Feuerwehr hat sich ihre Wichtigkeit auch nicht nehmen lassen. Die machte aus dem Retten eine Veranstaltung, welche Zuschauer anzieht, damit sie die vertreiben kann.

Wenn der Manni die Etagen runtergetragen wurde, waren die Wohnungstüren schon um jenen Spalt geöffnet, den das eingeklinkte zweite oder dritte Glied der Sicherungskette noch so diskret macht wie ein Astloch.

Einmal, als die Trage auf die Schiene des Feuerwehrwagens gesetzt wurde, schrie jemand aus einem unerleuchteten Parterrefenster: "Schade um jede Mark, die der Staat für deine Erhaltung ausgibt!"

Frau Siebert glaubte, die Katastrophe sei ihr auf die Stirn geschrieben. Sie fühlte sich immer zwischen einem Spalier aus Blicken. Sie geriet in einen Beziehungswahn, in dem jedes Wort, welches die Kassiererin von Bolle mit einer Kundin wechselte, von Manni handelte. Frau Siebert mied dann die angestammten Läden in den umliegenden Blocks. Für ein Brot fuhr sie schließlich zwei Stationen mit der U-Bahn.

Einer von Frau Sieberts Brüdern ist mit zwanzig in Rußland gefallen. Ihre Mutter habe dessen Sterben bildlich immer vor sich gehabt. Sie habe Jahre später plötzlich beim Sonntagskaffee noch geweint, weil sie den Jungen liegen sah. Damals sind aber viele so geendet, sagt Frau Siebert, das war ja Krieg für alle. Das waren Mütter von Soldaten, was für Frau Siebert ein schuldfreies Unglück ist. Es ist ein Unglück, mit dem Frau Siebert manchmal würde tauschen wollen, obwohl Manfred Siebert nicht gestorben ist, sondern über sieben Jahre dem Tod nur öfters nahe war.

Die Fortsetzung findet sich hier

Mittwoch, 11. Oktober 2017

Innehalten

So recht eigentlich sagt der Titel "Innehalten" schon alles, denkt es so in mir, bevor ich das Buch überhaupt aufgeschlagen habe, und bin dann positiv überrascht, wie viel man dazu noch sagen kann.

Von Martin Heidegger habe ich einmal gelesen, dass er darüber gestaunt habe, dass es tatsächlich etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Daran fühlte ich mich erinnert, als ich bei Fleur Sakura Wöss auf diese Sätze stiess: "... dass das Konkrete, Materielle, das, was ist, nur eine Seite darstellt. Das, was nicht ist, kann jedoch genauso wichtig, manchmal sogar wichtiger sein. Heute, in der Zeit des 'Alles ist möglich', sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir für unser Überleben dem Leeren und den Zwischenräumen unsere Aufmerksamkeit schenken sollten. Wir brauchen eine Revolution der Leere."

Warum können wir so schwer innehalten?, fragt die Autorin. Es ist dies keine abstrakte Frage, sie stellt sie sich selber, denn sie tanzt auf allen Hochzeiten, funktioniert, macht Karriere, ist vom selben Anerkennungsbedürfnis getrieben wie wir alle. "Ich konnte nicht mehr stehen bleiben. Irgendwo sind mir die Zwischenräume abhanden gekommen, in denen ich Zeit gehabt hätte, mich zu fragen: 'Werde ich von meinen Bildern und Vorstellungen getrieben, und habe ich tatsächlich noch die Zügel in der Hand?'"

"Immer wieder innehalten: täglich, wöchentlich, jährlich, lebenslang" ist ein Kapitel überschreiben und das fasst so recht eigentlich zusammen, worum es in diesem Buch geht. Fleur Sakura Wöss führt diesen Gedanken an ganz vielen konkreten Beispielen aus. Die Anleitungen reichen von "Einmal um den Block gehen" über "Büro-Yoga" zu "Eine Woche 'Almhütte'", zu der sie notiert:

"Ich hatte kein Programm und keinen Plan, und doch hatte mein Tag eine Form. Ich sass im Schaukelstuhl und sah stundenlang in die Natur hinaus. Es entwickelte sich ein Gefühl des Bei-mir-Seins, des Im-Moment-Seins, einer tiefen inneren Stille, die durchwegs eine Art Meditation war – 24 Stunden lang. Aus dem Nichtstun hatte sich ein vollkommen anderes Lebensgefühl gebildet. Ich überliess mich völlig dem Moment und dem, was sich von selbst anbot."

Was Fleur Sakura Wöss hier beschreibt, ist so recht eigentlich das Gegenteil des hyper-aktiven Lebens, das unsere Zeit kennzeichnet. Keine Karriereziele sind hier gefragt, niemand muss wissen, wo er sich in fünf Jahren sieht, nur die Gegenwart gilt es zu erfahren.

Es geht nicht um Spektakuläres in diesem Buch, es geht um Alltägliches. Den wahren Rhythmus wiederzufinden, zum Beispiel, wozu gehört, Pausen zu machen. Doch was offensichtlich scheinen mag, ist vielen Menschen eben doch nicht wirklich klar. "Gerade Menschen in der Wirtschaft, die an Schaltstellen sitzen und für das (Arbeits-)Leben vieler Menschen verantwortlich sind, sollten zuerst ihr eigenes Leben in den Griff bekommen."

Das scheint mir allerdings etwas arg idealistisch gedacht. Sicher, das Coaching von Führungskräften ist in Mode und auch populär, doch Manager, die ihr eigenes Leben im Griff haben, funktionieren nicht mehr so gierig und rücksichtslos wie Manager im kapitalistischen System eben zu funktionieren haben. Zugespitzt gesagt: Zen zu üben (oder zu unterrichten), um des wirtschaftlichen Erfolges Willen, verkennt, worum es im Zen geht.

Nichtsdestotrotz: Innehalten ist ein gelungenes und hilfreiches Buch, reich an praktischen Hinweisen, die uns anleiten, gegenwärtiger und damit wesentlicher zu werden. 

Fleur Sakura Wöss
Innehalten
Zen üben, Atem holen, Kraft schöpfen
Kösel Verlag, München 2017.

Mittwoch, 4. Oktober 2017

Eine gleichgültige Gegenwart ertragen

Gewiß, du hast recht, Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht – Gott weiß, warum sie so gemacht sind! – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.
Johann Wolfgang von Goethe
Die Leiden des jungen Werther 

Mittwoch, 27. September 2017

Niemand ändert sich freiwillig

Die Leser, die dieses Buch (Hans Durrer: Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung, Neobooks 2017) als Philippika gegen betreutes Denken begreifen, verstehen den Text richtig. Es könnte den Untertitel tragen ‚Diätetik der Sinnerwartung‘, was dem Anliegen des Autors sehr wohl entspräche, denn es geht ihm um eines: begreiflich zu machen, dass der Mensch, wenn er sich nicht endlich zum Nachdenken über die Um- und Missstände in seiner Vita aufrafft, er sich immer und immer wieder selbst ein Bein stellt, stolpert oder hinschlägt.

Dass es Durrer in aller Authentizität gelingt, dies zu verdeutlichen, liegt daran, dass die Form des elektronischen Publizierens gottlob etwas ausschaltet, nämlich das selbstverliebte lektorale Hineinredigieren in Autorentexte, die, entweder dem eigenen Weltbild diametral sind oder Dinge zur Sprache bringen, die Verlagsvorgaben nicht verantworten zu können glauben. Solche subtile Form der Zensur ist gang und gäbe, weshalb die ‚political correctness‘ immer weiter ausufert und vom Massenkonsumenten nicht einmal mehr bemerkt wird. Inwieweit dies ‚diplomierte Experten für die Seele‘ (S.23) infiziert hat, dürfte jeder Ratsuchende dann erfahren, wenn ihm verbale Injektionen verabreicht werden, die eine Einstellungsänderung bewirken sollen. Überhaupt dieses diplomierte Herumexperimentieren, welches auf der seelisch einfachen Wirkung beruht, nämlich der der Unterordnung des Probanden:‚Paradoxerweise erwarten wir von denen die Erlösung, die von unserem Gehorsam am meisten profitieren‘ meint Durrer auf Seite 51 und deutet damit auf die Angst vor Sanktionen hin. Recht hat er! Im Kontext mit dem, was er aus seiner Lebens- und Berufserfahrung im Umgang mit der fatalen Influenz von manifesten oder volatilen Süchten herleitet, stellt sich diese Unterordnung ebenfalls als eine Form der Sucht dar: der Sucht nach Gefallenwollen und einer Anleitung zum Ausweg aus einem seelischen Dilemma. Sei es das diffuse Leiden an der Welt, früher Weltschmerz genannt, oder ein ganz konkretes, gegenwärtiges Drama - egal wie, es nagt an den seelischen und körperlichen Kräften.

Durrer zeichnet die Situation folgerichtig so: ‚Niemand ändert sich freiwillig, denn das würde bedeuten, ein anderer Mensch zu werden. Und niemand will ein anderer Mensch werden, es sei denn, er muss‘ (Seite 6). Und darin liegt das große Pré seines Buches: Es leitet an, sich selbst zu akzeptieren, basierend auf der Erkenntnis, eine hilfreiche Hand auch zu ergreifen und nicht aus Angst vor dem eigenen Scheitern zurückzuweisen. In unprätentiöser Sprache aufbereitet und dem Leser ohne erhobenen Zeigefinger nahegebracht, wird dies zur echten Hilfestellung. Auch wenn der Autor es nicht wahrhaben sollte: Ihm ist ein Ratgeber geglückt, der dem Menschen Beine macht, so dieser in die richtige Richtung laufen lernen will, und der ihn dabei nicht als unwissenden Dummkopf dastehen lässt. Auch wenn es streckenweise mit vielen Zitaten eher essayistisch zugeht, so bleibt sein Grundanliegen doch unangetastet. Gut so!

J. Michael Baerwald
www.deutscher-buchmarkt.de

Mittwoch, 20. September 2017

Die grossen Kränkungen des menschlichen Grössenwahns

Schopenhauer hat die grossen Kränkungen des menschlichen Grössenwahns zusammen- und zu Ende gedacht.

Die kosmologische Kränkung: Unsere Welt ist eine der zahllosen Kugeln im unendlichen Raum, auf dem ein"Schimmelüberzug lebender und erkennender Wesen" existiert.

Die biologische Kränkung: Der Mensch ist ein Tier, bei dem die Intelligenz lediglich den Mangel an Instinkten und die mangelhafte organische Einpassung in die Lebenswelt kompensieren muss.

Die psychologische Kränkung: Unser bewusstes Ich ist nicht Herr im eigenen Hause.

Rüdiger Safranski
Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie

Mittwoch, 13. September 2017

Addicts are absolutists

Addicts – and I include alcoholics in the term – are absolutists. It's all-or-nothing with them. Indeed, their principal flaw is their inability to cope with a world that refuses to comply  with the picture of order or perfection toward which we basically all aspire. For an addict, it's Eden or nothing.

Lee Stringer: Grand Central Winter

Mittwoch, 6. September 2017

Mit dem Rauchen aufhören

Mit dem Rauchen aufhören, wie geht das?

„Ganz einfach so. Sie, Kriminalkommissarin Bettina Boll, hatte gedankenlos eine Kippe nach der anderen geplotzt, seit sie zwölf war, denn da waren ihre Eltern gestorben. Jetzt rauchte sie nicht mehr. Das war alles. Einen Entschluss dazu hatte sie nicht gefasst. Es war nur einfach nicht mehr notwendig.“

Monika Geier: Alles so hell da vorn

Mittwoch, 30. August 2017

Was ist die "Seele"?

Wie schreibt man über etwas, das man weder sehen noch hören, weder anfassen noch riechen kann? Der übliche Weg ist der in die Geschichte (Was meinten die alten Ägypter dazu?), fast genauso gängig ist es, gelehrte Zeitgenossen heranzuziehen. Psychiatrieprofessor Achim Haug, ein breit gebildeter Mann, der Jean Paul, Platon und andere mehr anführt, äussert sich zur Frage: "Was also ist die Seele?", wie folgt: "Auch in diesem Buch werden wir diese Grundsatzfrage nicht endgültig klären können. Wir werden uns ihr aber nähern, indem wir uns mit den Auswirkungen der Seele, insbesondere ihren Störungen beschäftigen."

Was also ist eine Störung? Oder eine Krankheit? Oder einfach nur ein Problem? Aber Probleme sind doch normal, jedenfalls die meisten, oder etwa doch nicht? Klar definierbare Antworten gibt es dazu nicht, doch es gibt Annäherungen, intelligentere und weniger intelligentere. Es hilft, wenn man auch den Zeitgeist und die kulturellen Verhältnisse mit einbezieht, denn was einstmals als krank (etwa die Homosexualität) gegolten hat, gilt heutzutage (jedenfalls in einigen Kulturen und  Gesellschaftsschichten) als normal.

Die heutige Psychiatrie geht davon aus, dass es sich "bei so gut wie allen psychischen Erkrankungen" um komplexe Zusammenhänge handelt, "also nicht nur eine identifizierbare Ursache vorliegt." So recht eigentlich würde das einem ja auch der gesunde Menschenverstand nahelegen. Wie auch diese Erkenntnis: "Patienten müssen ihre Belastungs- und Schutzfaktoren kennen lernen, die Belastungen in ihrem Leben so gut wie möglich vermindern und die Schutzfaktoren gleichzeitig systematisch stärken." 

Am Ergiebigsten ist Das kleine Buch von der Seele, wenn der Autor Beispiele aus seiner Praxis anführt. Da erfährt man Konkretes und Nützliches über ganz unterschiedliche psychische Erkrankungen wie etwa Schizophrenie, Depression, Manie, Angst-, Zwangs- und Belastungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Persönlichkeitsstörungen.

 Erläutert wird auch, was es mit dem Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell auf sich hat, "mit dem den Betroffenen die Entstehung von psychischen Krankheiten sehr einleuchtend erklärt werden kann" und was mit Patienten in psychiatrischen Kliniken geschieht. Bewusst wird einem dabei unter anderem, dass Psychiater (das Wissen um die Wirkungen und Nebenwirkungen der Medikamente ausgenommen) auch nur mit Wasser kochen. 

Professor Haug sieht das dezidiert anders und trommelt in eigener Sache – als "Experte für die Seele" wird er im Klappentext vorgestellt. "Die Einstellung, jeder gute Mensch könne doch ein wenig helfend mitmischen, möchte ich Ihnen gerne gründlich austreiben." Bei mir ist ihm das zwar nicht so ganz gelungen, denn einiges für das Seelenheil Grundlegende, an dem sich jede Therapie orientieren sollte, ist neugierigen, reflektierenden und empathischen Menschen auch ohne psychiatrische Fachkenntnisse geläufig. "Zwei Prinzipien können wir also formulieren, die in ihrem Zusammenspiel grundlegende Lebensprinzipien sind. Die ständige Bewegung alles Lebendigen und die ständige Bemühung um ein Gleichgewicht der Kräfte."

Aufgeklärt wird man zudem über die psychotherapeutische Behandlung. "Alle drei von mir hier kurz beschriebenen Theorien – Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und Systemtherapie – sind jede für sich überzeugend und, was noch viel wichtiger ist, in der Praxis immer wieder erfolgreich." Da, wie bereits erwähnt, bei psychischen Erkrankungen meist komplexe Zusammenhänge vorliegen, erstaunt eine solch eindeutige Erfolgsmeldung.

Das kleine Buch von der Seele regt auch immer wieder zum Schmunzeln an. Etwa wenn der Autor der unpräzisen Medizin das Präzisionshandwerk Psychiatrie gegenüberstellt, wobei die Darstellung der nicht exakten Körpermedizin weit ausführlicher und exakter ausfällt als die eher allgemeinen Ausführungen zur präzisen Psychiatrie. Oder wenn er darauf aufmerksam macht, dass die Vorgängerin der heute allgegenwärtigen Evidenz-basierten Diagnostik die Eminenz-basierte Diagnostik war. "Natürlich ist das verkürzt, denn die Diagnosen meines Chefs haben auch auf Fakten beruht und waren sicher nicht seltener richtig als heute."

Achim Haug ist es darum zu tun, negative Vorurteile über psychisch Kranke zu relativieren. Das ist ihm gelungen. Das kleine Buch von der Seele ist eine differenzierte, höchst ausgewogene, gut geschriebene und lehrreiche Lektüre.

Achim Haug
Das kleine Buch von der Seele
Ein Reiseführer durch unsere Psyche und ihre Erkrankungen
C.H.Beck, München 2017