Sieberts haben einen Sohn, der ihnen Ehre macht, und einen, der für den Vater "auf deutsch gesagt: gestrauchelt ist". Als eine erträgliche Balance können Sieberts das nicht empfinden. Herr Siebert hat als Kabelverleger in Postschächten angefangen und wurde dann Beamter im Telegraphenamt.
Sein durch diese Steigerung angehobenes Selbstgefühl und das Behagen an seinem Ältesten, der Medizin studiert, sind versickert in dem Kummer um Manfred. Manfred, der Manni genannt wird und in den Erzählungen seiner Mutter "mein Jenner" heißt, ist heroinsüchtig.
Sieberts wohnen jetzt im Kadettenweg in Berlin-Lichterfelde. Aus der Afrikanischen Straße im Wedding sind sie weggezogen, weil sie sich wegen Manni schämten. Anfang der Siebziger, sagt der Vater, gab's ja noch kein Massensterben in den U-Bahn-Toiletten, da stand noch nicht der Tote des Tages in der BZ.
Manni, fanden seine Eltern, war als Schande einzig. "Herr Siebert", haben welche aus dem Haus gesagt, "so 'n Neubau hat Ohren, wie wär's denn mit Dämmplatten?" Der Manni, sagt Siebert, hat ja infernalisch kotzen müssen. Der ist laut gestorben; und damit er nicht wegmacht, haben wir die Feuerwehr gerufen. Und die Feuerwehr hat sich ihre Wichtigkeit auch nicht nehmen lassen. Die machte aus dem Retten eine Veranstaltung, welche Zuschauer anzieht, damit sie die vertreiben kann.
Wenn der Manni die Etagen runtergetragen wurde, waren die Wohnungstüren schon um jenen Spalt geöffnet, den das eingeklinkte zweite oder dritte Glied der Sicherungskette noch so diskret macht wie ein Astloch.
Einmal, als die Trage auf die Schiene des Feuerwehrwagens gesetzt wurde, schrie jemand aus einem unerleuchteten Parterrefenster: "Schade um jede Mark, die der Staat für deine Erhaltung ausgibt!"
Frau Siebert glaubte, die Katastrophe sei ihr auf die Stirn geschrieben. Sie fühlte sich immer zwischen einem Spalier aus Blicken. Sie geriet in einen Beziehungswahn, in dem jedes Wort, welches die Kassiererin von Bolle mit einer Kundin wechselte, von Manni handelte. Frau Siebert mied dann die angestammten Läden in den umliegenden Blocks. Für ein Brot fuhr sie schließlich zwei Stationen mit der U-Bahn.
Einer von Frau Sieberts Brüdern ist mit zwanzig in Rußland gefallen. Ihre Mutter habe dessen Sterben bildlich immer vor sich gehabt. Sie habe Jahre später plötzlich beim Sonntagskaffee noch geweint, weil sie den Jungen liegen sah. Damals sind aber viele so geendet, sagt Frau Siebert, das war ja Krieg für alle. Das waren Mütter von Soldaten, was für Frau Siebert ein schuldfreies Unglück ist. Es ist ein Unglück, mit dem Frau Siebert manchmal würde tauschen wollen, obwohl Manfred Siebert nicht gestorben ist, sondern über sieben Jahre dem Tod nur öfters nahe war.
Die Fortsetzung findet sich hier
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