Mittwoch, 1. Juni 2016

Mitgefühl kann man lernen

Thupten Jinpa war in jungen Jahren Mönch und Englisch-Dolmetscher des Dalai Lama. Er lebt heute mit seiner Familie in Montreal, Kanada, wo er als Mittler zwischen dem klassischen tibetischen Buddhismus, in dessen Tradition er selbst steht, und der modernen Welt seine Berufung lebt.

Das Mitgefühl, so Thupten Jinpa, sei "den ethischen Lehren aller grossen religiösen oder humanistischen Traditionen gemein". Doch was ist eigentlich Mitgefühl? "Ein Gefühl der Anteilnahme, das sich einstellt, wenn wir fremdem Leiden begegnen und dabei den Antrieb verspüren, etwas zu seiner Linderung beizutragen."

Thupten Jinpa ist auch professioneller Übersetzer "und ein grosser Anhänger dessen, was Ralph Waldo Emerson über die Übersetzbarkeit einer Sprache in die andere sagt. In einer denkwürdigen Passage von Gesellschaft und Einsamkeit heisst es: 'Das wahrhaft Beste in einem Buch ist übersetzbar – eine jede wahre Einsicht oder menschliche Empfindung.'" Anders gesagt: "Die tiefsten und besten Wahrheiten besitzen universelle Gültigkeit."

Mitgefühl ist ein Grundzug unseres menschlichen Wesens, eine Anlage vergleichbar der Fähigkeit, eine Sprache zu erlernen. Forschungen haben gezeigt, dass Kinder bereitwillig helfen, "auch wenn sie dafür ihr Spiel unterbrechen oder eine gewisse Unannehmlichkeit in Kauf nehmen mussten."

Dies entspricht ganz und gar nicht dem herrschenden Weltbild, gemäss dem selbstloses Handeln fast schon als dem Menschen wesensfremd gesehen wird. In den Worten des Autors: "als ein bestenfalls irrationales, potenziell selbstschädigendes Tun, schlimmstenfalls als das Gebaren von Heuchlern, die einer Selbsttäuschung unterliegen."

Wir leben in egozentrischen Zeiten, das Ego zu fördern und zu stärken erscheint uns selbstverständlich, für gute Leistungen belohnt zu werden erachten wir nicht nur als uns zustehend, sondern als unser Recht. Jedoch: "Kinder, die für ihr hilfsbereites Verhalten belohnt wurden, waren bei späteren Gelegenheiten weniger hilfsbereit als jene, die keine Belohnung erhalten hatten."

Thupten Jinpa zitiert nicht nur viele wissenschaftliche Studien, die seine Auffassung, dass Mitgefühl gelernt werden kann, bestätigen, er verweist auch immer wieder auf seine eigene Erfahrung als Familienvater und illustriert an Beispielen, wie er selber an sich gearbeitet hat und nach wie vor arbeitet.

Der Schlüssel zur Zufriedenheit ist Mitgefühl mit sich selbst zu haben. "Mitgefühl mit uns selbst ist eine sanfte, wohlwollende, klarsichtige und dennoch wertungsfreie Ausrichtung von Seele und Geist auf das, was wir zu erdulden und zu entbehren haben."

Viele scheuen das Mitgefühl, sei es mit sich, sei es mit anderen, weil sie damit Schwäche, Unterwürfigkeit oder Sentimentalität assoziieren. Es erfordert Mut, diese inneren Widerstände zu überwinden. Tun wir dies, so ermöglichen wir uns, die Erfahrung der Gemeinsamkeit zu machen. "Was die empathische Anteilnahme an einem anderen Menschen in uns weckt, ist ein Gefühl von Verbundenheit – oder vielmehr der Identifikation – mit dem anderen."

Das einzig Beständige sei der Wandel, sagen die Buddhisten. Anders gesagt: die Unbeständigkeit regiert unser Leben, wir können jederzeit alles verlieren. Das wollen wir vermeiden, so gut es geht und um fast jeden Preis. Sinnvoller wäre, die Gegebenheiten zu akzeptieren, wie sie nun einmal sind. Weil es nämlich viel schwerer ist, sich gegen sie aufzulehnen.

"Mitgefühl" präsentiert ganz viele Übungen, die wesentlich zum Ziel haben, ein gesundes Verhältnis zu uns selbst zu entwickeln, das geprägt ist von Wohlwollen, Verständnis und Akzeptanz, dem  "Nährboden, in dem auch unser Verhältnis zu anderen Menschen und der Welt wurzelt."

Thupten Jinpa
Mitgefühl
Offen & empathisch sich selbst
und dem Leben neu begegnen
O.W. Barth Verlag, München 2016

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