Sonntag, 22. August 2010

Wir sind alle süchtig

"Nicht die Droge ist's, sondern der Mensch" enthält Beiträge von Walther H. Lechler (Nicht die Droge ist's, sondern der Mensch; Wir sind alle süchtig), W. Seidenwerth (Rückfälle und menschliche Natur), Berthold K. (Vom Nutzen der Sucht für das Leben), Ambros Wehrli (Behandlungskonzepte für Drogensüchtige), Karl A. Geck (Suchtgesellschaft kurz vor dem Entzug) und Karl M. (Münchhausen lässt grüssen) und ist uneingeschränkt zu empfehlen. Um diese Behauptung zu illustrieren, will ich im Folgenden ganz willkürlich aus den verschiedenen Beiträgen zitieren. Auch deswegen, weil ich keine Veranlassung sehe, mit eigenen Worten zu sagen, was andere schon treffend ausgedrückt haben:

"Drogen machen nicht süchtig. Alkohol verursacht nicht den sogenannten Alkoholismus", mit diesen Sätzen leitet Walther Lechler seinen Beitrag, "Nicht die Droge ist's, sondern der Mensch", ein. Es versteht sich: Das sehen die meisten im Bereich Sucht arbeitenden Menschen (und von dieser Sucht ganz gut lebenden - man denke an die Pharmaindustrie, Therapeuten, Sozialarbeiter, Politiker, Anwälte, Soziologen, Beistände etc.) ganz anders: "Wehe dem, der sich offen oder versteckt anschickte oder heute versucht, die heilige Kuh eines bereits fest institutionalisierten, wissenschaftlichen Glaubens zu schlachten oder ihr nur das Recht ihrer Stellung abzusprechen!"

Aufklärung ist von Nöten: "Die Metapher 'Alkohol' heisst übersetzt nicht allein C2H5OH oder Äthylalkohol, oder aqua vitae, sondern ist ganz schlicht Synonym von Lebenslüge, Selbstbetrug und Selbsttäuschung. Sie bezeichnet alles, was dazu dienen kann, unseren Blick vor der Wirklichkeit zu verstellen." Und was die Hilfe für Süchtige angeht, da zitiert Lechler u.a. Konstantin Wecker:

"Einem Drogensüchtigen kann man nicht helfen, höchstens Brücken bauen. Er traut nur Gleichgestellten, die ihn nicht in ihr eigenes Lager führen wollen, sondern einfach mal liebevoll die Hand ausstrecken und ihn dann auch nach seinem eigenen Willen und Weg weiterziehen lassen."

"Wir sind in dem Wahn gefangen, dass wir die Sucht besiegen können - doch wir alle - der Süchtige und wir - wissen, dass es nicht stimmt, aber wir tun so als ob", liest man bei Berthold K. Und weiter: "Der Süchtige glaubt im Stillen immer noch, dass er die Sucht in den Griff bekommt ... und so wird der Kampf der Drogenbekämpfungskämpfer fortgesetzt", obwohl: "Keiner weiss, was hilft - keiner kann sagen, was Süchtige zur Umkehr zwingt - darum muss man die fragen, die es geschafft haben." Und was sagen die? Einer von ihnen, Berthold K., sagt dies: "Ich weiss, dass meine Genesung da begonnen hat, wo ich den Kampf gegen die Droge Alkohol endgültig aufgegeben habe - wo ich auf der ganzen Linie kapituliert habe ... Süchtige geben ihr Spiel - ihren Kampf mit der Droge - dann auf, wenn kein Gewinn mehr erkennbar ist ... wenn sie etwas gefunden haben, was ihnen mehr bringt als das Spiel mit der Droge. Wenn ihr Leben wieder einen Sinn hat!"

Ambros Wehrli drückt "diesen Kampf aufgeben" so aus: "Bei den meisten Süchtigen besteht erst eine echte Chance zur Umkehr, wenn sie 'gegen die Wand' laufen, also an einen Punkt kommen, wo es nicht mehr weitergeht."

"Ich gehe von Folgendem aus", schreibt Karl Geck: "Im Heideggerschen Sinn sind wir Menschen in diese Welt geworfen und müssen, ob wir das nun wollen oder nicht, uns verhalten, Antwort geben durch unser Leben auf Fragen, die wir nicht beantworten können. Und unsere Antworten haben Folgen, die wiederum auf uns zurückwirken, unsere Realität bestimmen." Diese Antworten (und damit unsere Realität) können ganz verschieden aussehen: man kann sich mit diesem Hineingeworfensein ins Leben, mit der Wirklichkeit also, auseinandersetzen, sich ihr stellen; man kann versuchen, sie zu kontrollieren oder man kann sich ihr verschliessen, indem man sich betäubt (durch Drogen, politisches Theater, selbstgeschaffene Probleme etc.). Die Kontroll- und Vermeidungsvariante sind die beiden gängigsten; die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die am wenigsten übliche, denn diese setzt eine "neue" Art zu leben voraus. Nochmals Karl Geck: "Es geht um Veränderung, ja mehr, es geht um wesensmässige Veränderung: um Transformation."

Walther H. Lechler (Hg.)
Nicht die Droge ist's - sondern der Mensch
Santiago Verlag, Goch 2009
http://santiagoverlag.de

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