Wenn jemand mit dem Trinken aufgehört hat, besteht die Gefahr, dass er rückfällig wird, klar. Im Entzug lernt man, mit dieser Gefahr umzugehen. Sie ist im ersten Jahr nach der Entwöhnung am höchsten, aber auch danach keineswegs aus der Welt. Die Leute in der Klinik haben uns von früh bis spät eingebläut. Es wird Krisen geben, Momente, in denen ihr traurig seid, euch nach der Vergangenheit zurücksehnt und Angst vor der Zukunft habt. In diesen Momenten werdet ihr Lust haben zu trinken, und diese Lust wird euch unwiderstehlich erscheinen, sie wird euch überrollen wie eine Woge. Aber sie ist nicht unwiderstehlich, das kommt euch nur so vor, weil ihr euch schwach fühlt. In Wirklichkeit kommt und geht sie, genau wie eine Woge im Meer. Ihr kennt das doch: Wenn euch beim Baden eine Welle überspült, taucht ihr für ein paar Sekunden unter, aber ihr seid gleich wieder oben, auch wenn es euch wie eine Ewigkeit vorkommt - vorausgesetzt, ihr bleibt ruhig und geratet nicht in Panik. Und genau das müsst ihr auch in diesen kritischen Momenten tun: Ruhe bewahren und nicht in Panik beraten. Denkt daran, dass die Welle vorübergeht und ihr den Kopf gleich wieder über Wasser habt. Wenn ihr den unwiderstehlichen Drang verspürt, zu trinken, tut etwas, um die Sekunden oder Minuten zu überbrücken, die dieser Drang andauert. Macht Kniebeugen, lauft zwei Kilometer querfeldein, esst einen Apfel, ruft einen Freund an. Irgendetwas, das euch hilft, an nichts zu denken.
Gianrico Carofiglio: Reise in die Nacht
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