Mittwoch, 27. November 2024

Der Infantilismus unserer Zeit

Viktor Frankl sagte einmal, es gebe nur zwei Rassen: Die Anständigen und die Unanständigen. Und da die Anständigen in der Minderheit seien, gelte es, diese zu stärken.

Nur Unanständige wählen Unanständige.

Warum führt der zivilisierte Mensch Krieg?, wurde Sigmund Freud nach dem Ersten Weltkrieg gefreut. Weil der Mensch gar nicht zivilisiert sei, gab dieser zur Antwort,

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Von William Golding, Nobelpreisträger für Literatur 1983, wurde 1979 Das Feuer der Finsternis veröffentlicht, worin er die Zerstörung der Ordnung durch junge Menschen beschreibt, in denen sich der Narzissmus und Infantilismus der Zeit verkörpert.

Heutzutage wird der Narzissmus und Infantilismus auch von alten Männern verkörpert, die nie erwachsen geworden sind, nicht einmal ansatzweise.

We want the world and we want it now gehörte zu den Leitsprüchen meiner Jugend. Diese Mentalität, die ich damals nichts als Mehrheitseinstellung wahrgenommen hatte, hat sich eigenartigerweise durchgesetzt, denn heute wollen viele Menschen alles sofort, weshalb denn auch fast food so erfolgreich ist. Dass es keine gute Idee ist, jedem Impuls unverzüglich nachzugeben, ist offenbar vielen abhanden gekommen. Stattdessen: Ich will, ich will, ich will ... und zwar jetzt sofort.

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Entscheidungen zu treffen setzt entscheidungsfähige Menschen voraus, die willens und imstande sind, sich sachlich zu informieren. Wer ausschliesslich seinen Gefühlen folgt, ist nicht nur ein Trottel (Frauen und Nicht-Binäre eingeschlossen), sondern schlicht nicht zivilisiert, und das meint, nicht von der Vernunft geleitet.

Zivilisiert sein ist keine Frage der Intelligenz, sondern eine Frage der Haltung. Zivilisiert sein meint anständig zu sein.

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Dass der Mensch von der Vernunft geleitet sei, ist ein Irrtum, Das zeigt sich besonders bei Wahlen, wo man in der Regel die wählt, mit denen man sich am besten identifizieren kann. Oder die man bewundert. Leider gehört die Bewunderung ganz vieler den windigen und rücksichtslosen Gangstern (man denke an die Popularität von Mafia-Filmen), die es mit Tricks und Schweinereien schaffen, erfolgreich zu sein. Der ehrliche Arbeiter geniesst hingegen kein hohes Ansehen, bestenfalls läuft er unter der Kategorie lieb, aber eben blöd. Auf dieser Mentalität gründet der Infantilismus unserer Zeit.

Sonntag, 24. November 2024

Freeing oneself up

Politics ist the art of preventing people 
from taking care of what concerns them.
Paul Valéry

 For many, many years, my focus on the world was directed by the media – for the media fascinated me. In my younger years, hardly a day went by without newspapers and magazines, later came televison (from Good Morning Britain to Channel 4 news to the various talk shows); the time I spent reading the news online during the last couple of years does border on addiction. From The Guardian to The New York Times, from the Tagesanzeiger to Der Spiegel – I simply could not get enough.

Although I knew enough about the mechanics of the media to not fully trust them, my worldview nevertheless depended largely on what I read. My focus was mostly on politics and on culture. And, while I often felt appalled and bored by what l learned (it essentially all boiled down to vanity), I did not seem to be able to let go of something that was unduly consuming my time.

And then, November 6, 2024 arrived: the morning news predicted that the American election would be won by a man who was not only utterly unfit to run a grocery store but whose character was a total disgrace, an insult to any decent being. My faith in humanity not only took a beating, it was gone.

The public performances of this old man were a lesson in savegeness for which the media provided a platform. Sure, they checked his statements, criticised him, and made it clear how dangerous he was. However, their reasoned information had no tangible effect, yet their providing a daily platform for this man had – for the media cannot tell us what to think, they can however direct our attention. I can't think of anyone who was more showered with attention than this moron. He was given exactly what he needed – and it payed off.

On November 6, 2024, my attention shifted. Since then my daily TV-news ritual (BBC, CNN, Sky News) ceased to exist, likewise my online news intake (from The Independent to The Daily Telegraph to Watson) was gone. Skimming what I'm told are news is now enough. To my suprise, no conscious decision was needed, it happened automatically. 

Little by little I started to understand (understanding is a feeling) that the responsibilty for where to direct my attention was with me. Also, contrary to what I had been taught (and believed), there was no need whatsoever to be politically informed (I cannot recall a single political event that has affected my personal life). To be free to choose what to focus on however isn't easy if you're as media-conditioned as I am. Nowadays, I'm in the process of trying to figure out what to concentrate on. Richard Rorty once indicated the direction: "... the emphasis falls less on knowing than on imagining, more on freeing oneself up than on getting something right."

Santa Cruz do Sul, 22 December 2022

Mittwoch, 20. November 2024

Verhaltenssüchte personenzentriert verstehen und behandeln

Was beim Einen funktioniert, kann bei der Anderen fehlschlagen. Was dem einen guttut, führt bei der Anderen ins Desaster. Das wissen wir. Und so gehen wir-in der Folge davon aus, dass das eigene Problem ein ganz spezielles sei und stellen uns vor, dass es eine auf uns abgestimmte Therapie geben müsste, die den spezifischen Eigenheiten unserer Person Rechnung trägt. Ob der personzentrierte Ansatz genau dies meint, weiss ich nicht, denn er wird in diesem Buch nicht erklärt, vielleicht habe ich es aber auch überlesen. Im Internet erfuhr ich  dann, dass der personzentrierte Ansatz den Menschen in den Mittelpunkt stelle und auf seine Fähigkeiten vertraue, sich selbst zu entwickeln. Mir gefällt dieser Ansatz, der meinem Ego schmeichelt. Für mich (ich habe eine Suchtpersönlichkeit auf meinen Lebensweg mitbekommen – Nein, nicht von meinen Eltern) ist das der falsche Ansatz, das weiss ich bereits nach einem Blick ins Inhaltsverzeichnis, wo Themen wie "Sucht und Migration", "Sucht und Traumatisierung" wie "Sucht und Männlichkeit" aufgeführt sind, denn mein Ego sollte nicht gehätschelt werden, ganz im Gegenteil. Klar doch, für andere mag das funktionieren.

Was meines Erachtens für dieses Buch spricht, ist sein Verständnis von Sucht, das erfreulicherweise nicht auf Substanzabhängigkeit beschränkt ist, sondern Glückspielsucht, Gaming, Streaming, Surfen im Internet. Sexsucht und Kaufsucht als Süchte begreift. Ich selber gehe noch viel weiter: Für mich ist Sucht dadurch definiert, dass man nicht fühlen will, was man fühlt. Und das meint: Man kann nicht bei sich verweilen, rennt dauernd davon. Zum Teil ist das biologisch bedingt (unser Gehirn ist antizipatorisch angelegt); zum Teil leben wir in einer Suchtgesellschaft, in der nichts jemals genug ist, sondern immer mehr und anderes gewollt werden soll. So ist der Kapitalismus.

Der Autor dieses Werkes leitet die Ambulante Suchthilfe Bethel in Bielefeld und erläutert sein Vorgehen an vielen Beispielen aus der Praxis. Diese Fallstudien sind höchst aufschlussreich. Etwa über die Therapie von Menschen mit Migrationshintergrund, die von ihren Familien häufig mit folgenden Aussagen konfrontiert werden: Hör doch einfach auf. Verliere niemals dein Gesicht. Bring keine Schande nach Hause. Probleme sind privat (und werden in der Familie gelöst). Erfülle die Rolle als Mann. Denk an Stolz und Ehre.

Nun ja, Solches hören auch viele Menschen ohne Migrationshintergrund. So könnten alle diese Aussagen auch locker von Asiaten (von China über Thailand bis Indonesien; ich habe selber einige Jahre in Asien zugebracht) stammen. Zudem: Dass muslimische Migranten die Glücksspielsucht häufig nicht als Krankheit akzeptieren und vom Therapeuten erwarten, dass er ein Rezept dagegen hat, ist auch in Europa und Amerika eine gängige Auffassung. Anstatt den Unterschieden (Frauen, Männer, Kultur, soziale Stellung etc.) Rechnung zu tragen, scheint mir sinnvoller, Gemeinsamkeiten zu betonen, denn so speziell wie wir meinen, sind wir alle nicht. 

Der personzentrierte Ansatz geht jedoch einen anderen Weg, bei dem der Therapeut einen behutsamen, verständnisvollen Ansatz pflegt. Das zeigt sich sehr schön in den Gesprächen in diesem Buch, die überaus aufschlussreich sind. Ja, so recht eigentlich lohnt sich die Lektüre allein dieser Gespräche wegen, weil sich darin zeigt, wie der Therapeut denkt. Und auch: Wovon er ausgeht: Dass die Erfahrungen der ersten Lebensjahre prägend sind, dass Schuld und Schamgefühle bearbeitet gehören, dass der Veränderungswunsch gestärkt werden soll usw.  So ist das gängige Denken der heutigen Zeit.

Der Therapeut hört zu, bestätigt, fasst zusammen, wiederholt in seinen Worten, was der Patient/Klient sagt. Dass der Patient/Klient so einsichtsvoll rüberkommt, hat natürlich wesentlich damit zu tun, dass da eine Grundbereitschaft zur Veränderung da zu sein scheint. Vieles an dem, was der Therapeut beiträgt, mag einem banal vorkommen. Das ist es auch – und liegt daran, dass es das auch ist. Dass eine Therapie gelingen kann, liegt nicht am Fachwissen des Therapeuten, sondern an seiner Fähigkeit, präsent zu sein, als ruhiger, unaufgeregter, verständnisvoller Pol.

Der Therapeut in diesen Gesprächen ist ausgesprochen einfühlsam, kontrolliert und sehr rational. Erstaunlich finde ich, wie rational zugänglich und einsichtsvoll sich die Patienten/Klienten zeigen. Zugegeben: Mich verblüfft die Vorstellung generell, dass Einsichten zu Verhaltensänderungen führen können, doch die angeführten Beispiele sind allesamt Erfolgsgeschichten

Frank Gauls
Verhaltenssüchte personzentriert verstehen und behandeln
Ernst Reinhardt Verlag, München 2024

Mittwoch, 13. November 2024

Glücklich ohne Alkohol

"Ein Guide für Frauen" heisst es auf dem Umschlag der deutschen Aufgabe, bei der englischen Ausgabe, die übrigens Not Drinking Tonight heisst, fehlt der Hinweis. Mit anderen Worten: Der Titel der deutschen Ausgabe ist irreführend und allein dem Marketing geschuldet, denn ob ein Mann oder eine Frau süchtig ist, ist der Sucht egal – sie macht solche Unterscheidungen nicht.

Im Feld der Sucht (ich unterscheide nicht zwischen Alkoholismus, Drogensucht, Gaming, oder Handysucht) gibt es viele, ganz unterschiedliche Ansätze. Was beim einen wirkt, hat bei der anderen keine Chance. Und so ist natürlich auch durchaus möglich, dass bei einigen Frauen eine Therapeutin mehr bewirken kann als ein Therapeut. Das Gegenteil stimmt aber eben auch.

Auch mit den Anonymen Alkoholikern hat Amanda E. White Erfahrungen gemacht. "Diese Gruppe wurde zu meinem Unterstützungssystem, meinem Rettungsanker und machte mein Sozialleben aus. Einige meiner besten Freunde habe ich auf diesem Treffen kennengelernt."  Sie findet einen Grossteil des Programms moralgetränkt, zudem könne die Starrheit des Programms Scham hervorrufen. Ich teile diese Auffassung nicht, finde im Gegenteil, dass Moral und Scham heutzutage leider fast ausschliesslich negativ besetzt oder kein Thema sind, weshalb denn auch gerade ein Mann ohne jegliche Moral zum amerikanischen Präsidenten gewählt wurde.

"Für mich besteht Schadensbegrenzung an erster Stelle. Es gibt so viele Menschen, die es nicht geschafft haben, abstinent zu werden, und sich dafür zutiefst schämten. In diesem Falle empfehle ich Ihnen, sich einen zugelassenen Therapeuten zu suchen." Die Autorin klingt, als ob Scham zu empfinden, ganz furchtbar sei. Sicher, das ist möglich, doch Scham kann auch ein exzellenter Motivator sein. Ob da zugelassene (d.h. diejenigen, die gemäss den gängigen Schulmodellen praktizieren) Therapeuten helfen können? Falls ja, dann meist trotz der standardisierten Ausbildung.

Amanda E. White ist lizenzierte Therapeutin, kennt Alkoholabhängigkeit aus eigener Erfahrung und will mit diesem Buch umfassend über Alkohol aufklären. Sie tut dies unter anderem anhand von Gesprächen mit einer 24jährigen Peruanerin, einer 21jährigen Weissen und einer 34jährigen Schwarzen. Vor allem kennzeichnend für diesen Ratgeber sind die vielen praktischen Anleitungen

"Im ersten Teil, Warum Sie trinken, erfahren Sie mehr über Ihre Psyche und darüber, wie Scham und Traumata mit Ihrem Alkoholkonsum verwoben sind." Nun ja, kein Mensch weiss, weshalb jemand wirklich trinkt. Dazu kommt, dass unsere Erklärungsmodelle mehr über unser Denken aussagen als darüber, was sie zu erklären glauben.

Zu den Erklärungsmodellen von Amanda E. White gehört die Evolution. Fressen oder gefressen werden, so funktioniert Evolution. Überlebt haben dabei die, so die Autorin, die vorsichtig gewesen sind. Unsere Vorfahren lebten in Kleingruppen, in denen es wichtig war, was andere über einen denken. Gut möglich, doch woher wollen wir das wissen? "Allerdings  interessieren uns gemäss unserer evolutionären Entwicklung nur die Meinung von Menschen, die uns sehr gut kennen, und das sind maximal 150 Personen." 150 Personen, die uns sehr gut kennen? Das hat offenbar ein Professor aus Oxford herausgefunden. Nun ja, ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich selber 150 Personen auch nur entfernt kenne ....

Die Ausführungen zur Scham (unter der die Autorin sehr gelitten hat) und zum Trauma sind nachvollziehbar, doch fehlt es an der Evidenz, denn wie alle Gefühlszustände sind sie nicht wirklich fassbar. Es handelt sich um Zuschreibungen. Auch die Vorstellung, man müsse über Verstecktes sprechen können, ist nicht viel mehr als ein Glaube. Wer daran glaubt, dem kann es helfen. Darüber hinaus ist das Darüber-Sprechen das Business-Modell der Therapeuten. Kein Wunder blüht in Asien das Therapie-Geschäft nicht, denn Asiaten verstehen nicht, weshalb man über alles sprechen sollte.

Fazit: Eine sachliche, gut aufgebaute Zusammenfassung der derzeit gängigen Überzeugungen in Sachen Umgang mit Alkohol.

Amanda E. White
Glücklich ohne Alkohol
Ein Guide für Frauen
Knaur Menssana, München 2024

Mittwoch, 6. November 2024

Von der Hoffnung, meiner Feindin

 Ich habe nur einen Feind: die Hoffnung.

Ständig sagt sie mir, alles werde nicht nur gut, sondern noch besser werden; immerzu treibt sie mich an, nie lässt sie mich sein, wo und wie ich bin.

Was wäre der Mensch ohne Hoffnung? habe ich einmal gelesen. Nicht nur Hemingway hat sich dies gefragt, doch ihm, als Alkoholiker (wenn, was wir über ihn gelesen, der Wahrheit entspricht), war die Hoffnung wohl überlebensnotwendiger als anderen, die vielleicht etwas weniger leiden und deshalb dieser tröstenden Vorstellung, dass alles, in der Zukunft, der fernen, eigentlich immer nur besser werden kann, nicht so stark bedürfen.

Wer in der Gegenwart lebt, bedarf der Hoffnung nicht. Vorausgesetzt natürlich, er (oder sie – die künftig immer mit gemeint werden soll) lebt gerne in dieser Gegenwart. Ein solcher muss nicht vertröstet werden, ein solcher schätzt, was er hat.

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Der Mensch ist grundsätzlich unzufrieden angelegt, und deswegen ein sehnsüchtiges Wesen. Um mit Wilhelm Busch zu reden: was er hat, das will er nicht, und was er will, das hat er nicht. Und deshalb braucht er die Hoffnung, dass er eines (meist fernen) Tages (vielleicht aber auch erst im Himmel), haben wird, was er jetzt schon will (und dann möglicherweise nicht mehr haben möchte – doch das wäre eine andere Geschichte).

Ständig also hofft der Mensch auf bessere Zeiten. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als warten. Dem Spanisch sprechenden Latino ist das eh dasselbe, für ihn bedeuten sowohl hoffen als auch warten esperar, was uns zum Schluss zwingt, dass wenn der Latino hofft, er zur gleichen Zeit auch wartet, und wenn er wartet, er ganz offenbar sogleich hofft. So richtig unmittelbar eingeleuchtet hat mir das, als ich letzthin auf den Bus wartete und dabei hoffte, dass er auch käme.

Für die Latinos ist also der Fall gelöst: sie haben absolut Null-Chance, jemals in der Gegenwart leben zu können. Und scheinen auch gar kein Problem damit zu haben, man denke nur an ihr andauerndes mañana. Oder meint das vielleicht das Gegenteil? Dass also das Heute das Wichtige und alles andere bis morgen warten könne?

Wir andern aber, die wir so gewiss sind, dass wir im Hier und Jetzt leben sollten (möglichst entspannt natürlich), wir haben ein Problem damit, dass wir, so sehr wir es auch wollen, es einfach nicht können.

Wo ein Wille, da kein Weg, sagt uns dazu der Psychologe von heute, und wir glauben zu ahnen, dass da was dran sein könnte, nur haben wir nicht den leisesten Schimmer, wie wir das jetzt praktisch umsetzen sollten. Im Gegensatz zum Psychologen – der fordert für solche Weisheiten Honorar.

Wir trotten also weiterhin ratlos durch die Gegend, wobei wir von Zeit zu Zeit auf Leute treffen, die behaupten, im Grunde sei alles ganz einfach, man müsse nur in der Gegenwart leben. Es sind dies in der Regel Menschen, die den Anblick in Blüte stehender Blumen unweigerlich mit Begeisterungsschreien kommentieren. Ich gestehe, mir ist ein solches Naturell nicht gegeben, und ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob ich wünschte, mir wäre ein solches mitgegeben worden. Und wenn ich schon beim Gestehen bin: mir ist von den mir bekannten drei Zeitzonen – der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft – die Gegenwart am wenigsten lieb. Nicht dass ich das gut finde, doch es ist so.

In einer Kultur gross geworden, die dem Sollen, dem Müssen, eine Prominenz zuweist, die einen in Null-Komma-Nix die Flucht in den Buddhismus antreten lässt, reagiere ich auf Aufforderungen, die mit „Du musst nur“ anfangen, automatisch mit Verweigerung und fühle mich dann fast augenblicklich auf eine mir nicht so recht erklärliche Art schuldig.

Doch so eine Sollens-Kultur bringt es eben auch mit sich, dass man immer weiss, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Und darauf hofft, wenn man denn das Seinige zu tun bereit ist, dass die Dinge eines Tages so sein könnten, wie sie eigentlich sein sollten.


Sisyphus scheint davon nicht sonderlich überzeugt gewesen zu sein. Der konzentrierte sich darauf, den Stein den Hügel hinauf zu rollen. Und tat das und nur das und sonst gar nichts. Camus soll gesagt haben, man müsse sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen. Obwohl mir der Gedanke sympathisch ist, habe ich mir bisher Fliessbandarbeiter nicht als fröhliche Menschen vorgestellt, aber ich bin ja auch kein anerkannter Philosoph.

Lasst alle Hoffnung fahren! hatte ich ja eigentlich immer als Drohung interpretiert. Wenn dem nun aber gar nicht so wäre, wenn das in Wirklichkeit eine Aufforderung wäre, sich der Realität, also dem, was ist, zu stellen? Und einfach zu tun, was zu tun ist, und sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen?

Ich weiss nicht so recht. Es klingt mir doch ein bisserl arg nach „glücklich, wer nicht denkt“, und dazu mag ich mich eigentlich nicht äussern, schon deshalb nicht, weil es, das weiss jeder, eindeutig was für sich hat, doch eben genauso eindeutig ziemlicher Humbug ist. Schliesslich ist einer, der denkt, deswegen nicht schon gleich unglücklich.

Und überhaupt, so sagt man, zeichne das Denken den Menschen doch aus.

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Es gehe darum, den Wald voller Affen im Kopf zur Ruhe zu bringen, sagt der buddhistische Mönch im Hauptsitz des „World Fellowship of Buddhists“ in Bangkok. Wir sollten den Atem beobachten, ihm einfach folgen, konstatieren, was passiere. Wenn Gedanken uns ablenkten, sie weder verscheuchen, noch ihnen nachgeben, sondern sich sagen, aha, ein Gedanke, und dann wieder zum Atem zurückkehren.

Ein Mann (der sei früher Professor in Berkeley gewesen, raunt mir mein Nachbar zu) meldet sich: er habe das schon oft geübt, doch nach zwei, drei Minuten sei er regelmässig weg von seinem Atem und voll in Gedanken.
Der Mönch lacht. Das sei normal. Er solle einfach weiter üben.

Mir geht es so wie diesem Mann: ganz schnell bin ich wieder bei meinen Gedanken (und sie bei mir). Das ist vertrautes Territorium. Und überhaupt finde ich meinen Atem zu beobachten ganz und gar nicht attraktiv.

Wir üben jetzt eine halbe Stunde lang Meditation im Gehen, sagt der Mönch. Stehen Sie gerade, fassen Sie den Punkt am Ende der Halle, wo Sie hinwollen, ins Auge. Und jetzt konzentrieren Sie sich auf Ihre Füsse: wie sie auf den Boden treffen, abrollen, sich heben.
Diesmal geht’s, diesmal spüre ich das Heben, Senken, Auftreffen, Abrollen der Füsse, die Vorwärtsbewegung des Körpers, und ohne dass mich Gedanken sofort wieder wegholen. Diesmal brauche ich nicht zu hoffen, diesmal bin ich ganz einfach – und tue, was ich tue.