Es gibt ganz unterschiedliche Gründe, weshalb jemand mit dem Trinken aufhört; vielleicht sind es auch gar keine Gründe, vielleicht tut man es ganz einfach. Die meisten tun es hingegen nicht, wollen oder können es nicht. Diejenigen, die aufhören, sind in der Regel so sick and tired of being so sick and tired, dass sie ein anderes, ein ganz anderes Leben wollen. Doch was für ein Leben? Die Antworten darauf variieren natürlich.
Die Autorinnen Jardine Libaire und Amanda Eyre Ward trinken zwar nicht mehr, doch den Spass am Leben wollen sie sich keinesfalls nehmen lassen. Mit Berauscht vom Leben legen sie ein Buch vor, in dem es darum gehen soll, "den Rausch neu zu erfinden und zurückzugewinnen." Das klingt in meinen Ohren etwas arg nach: Genau wie bis anhin, nur nüchtern. Kein hilfreicher Ansatz, finde ich. Andererseits: Jeder Ansatz ist hilfreich, sofern er für jemanden funktioniert.
Janine Libaire und Amanda Eyre Ward sind Amerikanerinnen, also positiv unterwegs, manchmal etwas zu positiv für meinen Geschmack, denn Druck auszuüben geht für sie gar nicht. Ich sehe das anders, hätte ohne Druck niemals aufgehört mit dem Trinken. Das sei ein intrinsischer Druck und müsse von extrinsischen Druck unterschieden werden, erläuterte mir einmal ein Suchtmediziner, der offenbar der Meinung war, solche Unterscheidungen seien nicht willkürlich.
Berauscht vom Leben bietet Geschichten an, die vom Gedanken geprägt sind: "Wir wollen leben, wie es uns gefällt – und tatsächlich hat uns das überhaut erst bewogen, nein danke zu Alkohol zu sagen. Scheiss auf den Gruppenzwang." Anhand von Ereignissen aus ihrem Leben, zeigen die Autorinnen unterhaltsam auf, was sie beeinflusst hat, und wovon sie sich haben inspirieren lassen. Vom Autor George Saunders hat Amanda gelernt, sich von den Dingen zu verabschieden, die nicht für sie bestimmt waren. Man ist gut beraten, diese Einsicht auf sich wirken zu lassen. Mir selber ist dabei Peter Handke durch den Kopf, der einmal meinte, es sei schon viel wert, wenn er an einem Tag nicht Fernsehen geschaut und kein Geld ausgegeben habe.
Mir gefällt an diesem Buch insbesondere, dass es meine Fantasie anregt, mein Augenmerk auf Dinge und Gedanken richtet, an denen ich oft achtlos vorbeilebe. Den Tod, zum Beispiel. "Um sich sehr lebendig zu fühlen, genügt es, über den Tod nachzudenken." Vor ein paar Tagen ist mir frühmorgens der Satz durch den Kopf, Ich könnte heute sterben – und habe mich für einen Moment sehr lebendig gefühlt. Mitten in dem, was man tut, innezuhalten und sich zu sagen, Das hier jetzt ist mein Leben hat auf mich übrigens dieselbe Wirkung.
Berauscht vom Leben ist überaus reich an Anregungen, die Mut machen, seinen eigenen Weg zu gehen. Mit Alkohol im Blut, sind wir fremdgesteuert, nüchtern steht uns die Möglichkeit zu wählen zur Verfügung. Wer das Trinken aufgibt, hat zwei Leben – vorher und nachher. Wobei: Natürlich hat nicht alles mit dem Trinken oder Nicht-Trinken zu tun. So ist der Besuch eines Musikfestivals mit 20 etwas anderes als mit 60, ob zugedröhnt oder nicht.
"Die Freiheit, nicht zu trinken" ist ein überaus gelungener Untertitel, auch wenn er etwas gänzlich anderes aussagt, als das englische Original "A Hedonist's Guide to Living a Decadent, Adventurous, Soulful Life – Alcohol Free", ein Konzept, das meines Erachtens in eine vollkommen falsche Richtung führt, da es impliziert, an den alkoholgetränkten Vorstellungen, die dem Trinken als Grundlage und Rechtfertigung dienten, sei so recht eigentlich nichts falsch.
Mit den Schattenseiten des Alkoholismus beschäftigt sich dieses Buch nicht, stattdessen legt es seinen Fokus auf die Möglichkeiten, die sich einem nicht von Alkohol benebelten Kopf eröffnen – plötzlich geht man wieder neugierig durchs Leben, erlebt Freude an Alltäglichem und tut Dinge, die man sich ohne Alkohol gar nicht hat vorstellen können, etwa ein Feuerwerk betrachten.
Berauscht vom Leben ist ein höchst nützliches Buch. Zu den Empfehlungen, bei denen sich zu verweilen lohnt gehört. "Es lohnt sich zu versuchen, Langeweile auszuhalten." Allerdings nicht, jedenfalls für mich nicht, aus dem Grund, den die Autorinnen anführen: "So kommt es zu grossartigen Ideen!" Sicher, das kann sein, doch wichtiger als diese Ergebnis-Fixierung scheint mir, nicht vor den eigenen Gedanken zu fliehen, sondern ganz einfach wahrzunehmen, was ist – es ist unser Leben. Wir sollten achtsam damit umgehen, siehe auch hier.
Obwoh Berauscht vom Leben ganz viele hilfreiche Gedanken ausführt, vor allem geblieben sind mir tragische Geschichten wie der Brief an das betrunkene Mädchen beim Sonntagsgrillfest, die mich nachhaltig berührt hat. Oder ein trockener Besuch in New York: "Und sie begriff, dass die Anarchie, die sie ausschliesslich spätnachts und immer und immer wieder auf dieselbe Weise gesucht hatte, längst nicht mehr revolutionär, sondern angepasst war."
Fazit: Eine sympathische, lebensbejahende und stimulierende Lektüre!
Jardine Libaire / Amanda Eyre Ward
Berauscht vom Leben
Die Freiheit, nicht zu trinken
Diogenes, Zürich 2023