Mittwoch, 28. September 2022

Life at 69




These photos were taken by Blazenka Kostolna on 12 August 2022 on the banks of the Sihl near Adliswil. What we see in a picture, we bring to it. Knowing that I'm turning 69 today has a calming effect on me for to confront my age feels somewhat liberating. 

Needless to say, I did not expect that. Well, expectations are killers – the present doesn't stand much of a chance against them. Now, they seem to be largely gone. Or am I fooling myself? In any case, there are these moments when I'm glad that there is no other option than to concentrate on the present.

That however does not mean that I'm going to to do it for my mind usually does what it wants. And, a birthday does not change that – but it is a good reminder that to focus on the present is what I need to do for whenever I'm doing it life feels strange and okay.

Mittwoch, 21. September 2022

Die Masken der Psychopathen

Was für ein glänzender Einfall, das Buch mit dem Psychogramm eines Mannes zu beginnen, bei dem wohl die wenigsten an einen Psychopathen denken: James Bond. Gefolgt wird 007 dann von Napoleon Bonaparte und Pablo Picasso, bei denen die Psychopathie-Assoziation schon näher liegt. Jedenfalls für mich. Ich blättere vor zum Index, wo ich auf Namen hoffe, bei denen ich automatisch an Psychopathen denke, ob das nun wissenschaftlich belegt werden kann oder nicht, doch ein solcher Index fehlt. Schade. 

Dass sich den Autoren die Frage nach dem Index auch gestellt hat, zeigt sich im Epilog, wo sie begründen, weshalb sie darauf verzichtet haben, "keine lebenden Vertreter des grossen Psychopathen-Pools namhaft zu machen." Keine Fern-Diagnosen. Für mich bedeutet das: Man will sich nicht in die Karten schauen lassen, sein Geschäftsmodell nicht gefährden. Der andere Grund, den sie anführen, finde ich hingegen überzeugend: "Taten von Staatenlenkern und ihren Regimen, insbesondere Verbrechen an der Menschlichkeit, sollte man nicht versuchen durch ein Persönlichkeitsmerkmal, im Extremfall einer einzelnen Person, zu erklären, zu vereinfachen und schlimmstenfalls zu rechtfertigen."

Gleich vorweg: Was der Untertitel verspricht, Wie man sie durchschaut und nicht zum Opfer wird, ist natürlich dem Marketing geschuldet, also nicht wörtlich zu nehmen, denn ernsthafte Wissenschaftler verfügen über keine Patentrezepte. Und behaupten das auch gar nicht. Vielmehr fragen sie sich, was Psychopathie "eigentlich konkret und aus wissenschaftlicher Sicht" bedeutet. Das ist eine Frage, zu der sich Wissenschaftler kompetent äussern können, viel mehr geht nicht.

Doch zurück zu James Bond, diesem Supermann, der auch ein Emotionskrüppel sondergleichen ist. "Das Mass an Kollateralschäden, die seine Aktionen mit sich bringen, bekümmert ihn nicht erkennbar. Generell kennen wir Reue oder Schuldgefühle nicht an ihm." Die Autoren führen noch etliche andere Charaktereigenschaften auf, die den Mann zum Psychopathen machen, doch die Unfähigkeit zur Empathie sowie die Absenz von Reue und Schuldgefühlen gehören für mich zu den Eigenschaften, die mir besonders fremd und nicht nachvollziehbar sind. Kein Wunder, zeigt der beigefügte Selbsttest bei mir keinen Indikator für Psychopathie.

Wie bei Büchern von Professoren üblich, werden ausführlich Begriffe geklärt, Geschichte und Kontext erläutert. Und natürlich wimmelt es von Studien, sehr aufschlussreichen, notabene. So wurden etwa bei den Inuit in Alaska und den Yoruba in Nigeria Verhaltensweisen von Personen aufgezeichnet, "die andauernd Regeln brechen, nur an sich denken, rücksichtslos sind, stehlen, betrügen, die Gemeinschaft und die Frauen von anderen missbrauchen – alles Aspekte, die auch heute, 'bei uns' in der westlichen Welt, definitorischer Bestandteil von Psychopathie sind ...".

Speziell geschätzt habe ich den Hinweis auf Leopold Szondi, der nicht daran glaubte, dass sich die Menschheit zum Besseren entwickle. "Das Gros der Geschichte macht die ewig wiederkehrende Geschichte Kains aus." Nach Szondi nehmen Menschen mit psychopathischen Zügen, bei denen eine 'tötende Gesinnung' sowie "Zorn, Hass, Neid, Eifersucht und Furcht" überwiegen, "die höchsten Positionen in Politik, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft in unserer Gesellschaft ein." Belege, die auch Skeptiker überzeugen, seien allerdings rar, führen die beiden Autoren aus. Na ja, wie wär's mit Lebenserfahrung?

Szondi war übrigens der Auffassung, dass zwischen Polizisten und den von ihnen verfolgten Straftätern eine Wesensverwandtschaft existiere. Der gesunde Menschenverstand sagt das auch. Übrigens gibt es tatsächlich Berufe (Vorstandsvorsitzende, Rechtsanwälte, Finanzdienstleister) bei denen der Anteil der Psychopathen höher ist als in der Normalbevölkerung. Das liegt auch daran, dass psychopathienahe Merkmale (Ausblendung jeglicher Emotion und persönlicher Anteilnahme, zum Beispiel) bei gewissen Berufen gefragt sind, man denke an Chirurgen oder Piloten.

Es ist die Komplexität des Lebens, die einfache Zuordnungen nicht wirklich möglich macht. Darüber hinaus gibt es Überschneidungen mit Narzissmus und Borderline sowie anderen schwierigen seelischen Befindlichkeiten. Zusätzlich erschwerend ist, dass Psychopathen sich hinter der Maske der Normalität zu verstecken wissen. Nicht ohne Grund heisst dieses Buch Die Masken der Psychopathen.

Doch weshalb gibt es eigentlich Psychopathen? Das lässt sich nur hypothetisch beantworten, hat aber vermutlich mit der Evolution zu tun. Genauer: Mit dem Überlebenskampf, bei dem "Recht immer nur das Recht des Stärkeren, Aggressiveren, Raffinierteren, Skrupelloseren war." Was wir heutzutage als antisozial bezeichnen wurde als "adaptive Strategien" gesehen. Meines Erachtens ist das immer noch so, auch wenn wir es vorziehen, das sprachlich zuzudecken.

Zu wissen, ob man es mit Psychopathen zu tun hat, ist nicht nur für die Therapie, sondern auch für die Strafjustiz wichtig. "Sie sind nicht verwirrt, unzurechnungsfähig oder leben und handeln in einer Traumwelt oder Wahnvorstellung, wie etwa Schizophrene zuweilen." Doch sind Psychopathen eigentlich therapierbar?

Nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft, sagt die Hirnforschung, sind die Besonderheiten, die im Hirn von Psychopathen gefunden wurden, von Geburt an festgelegt. Dazu kommt, dass "es sich bei dieser Persönlichkeitsstörung um ein sehr komplexes Zusammenwirken vielfältiger Einzelmerkmale handelt." Eine erfolgreiche Therapie scheint am ehesten noch bei Jugendlichen möglich. Und wie verhält man sich gegenüber erwachsenen Psychopathen? Man geht ihnen tunlichst aus dem Weg.

Fazit: Spannende, gut geschriebene und hilfreiche Aufklärung.

Heinz Schuler
Dominik Schwarzinger
Die Masken der Psychopathen
Wie man sie durchschaut und nicht zum Opfer wird
C.H. Beck, München 2022

Mittwoch, 14. September 2022

Vita Contemplativa


Es entbehrt nicht der Ironie, wenn ein überaus produktiver Autor über die Untätigkeit schreibt. Es sei gleich vorweggenommen: Die Lektüre ist bereichernd und horizonterweiternd. Auch, weil Byung-Chu Han grundsätzlich argumentiert: "Der Kapitalismus wird von der Illusion genährt, mehr Kapital erzeuge mehr Leben, mehr Vermögen zum Leben. Aber dieses Leben ist ein nacktes Leben, ein Überleben."

Wir leben in hektischen Zeiten, alles muss rasch rasch gehen, Zeit zum Innehalten glauben wir uns nicht erlauben zu dürfen. "Wir haben vergessen, dass gerade die Untätigkeit, die nichts produziert, eine Intensiv- und Glanzform des Lebens darstellt", notiert Byung-Chul Han, womit er mir aus dem Herzen spricht, auch wenn ich nicht so sicher bin, ob wir das vergessen haben. Meine Vermutung ist, dass die meisten das gar nie wussten und immer noch nicht wissen.

Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit packt mich gleich von Anfang an. Das liegt, so vermute ich, daran, dass da Sätze wie Gewehrsalven abgefeuert werden. "Ohne Moment des Zögerns oder des Innehaltens sinkt das Handeln zur blinden Aktion und Reaktion herab. Ohne Ruhe entsteht eine neue Barbarei. Schweigen vertieft das Sprechen. Ohne Stille gibt es keine Musik, sondern nur Lärm und Geräusch. Spiel ist die Essenz der Schönheit." Auf mich wirkt dieses Sperrfeuer von Behauptungen, die einfach so in die Luft geschossen werden, irritierend und anregend. Und: Es macht mich innehalten. Und die Aussagen bedenken.

Zu einigen dieser Behauptungen fällt mir nicht viel ein, höchstens, dass mit begrifflichem Unterscheiden dem Leben eindeutig nicht beizukommen ist. "Handeln ist zwar konstitutiv für die Geschichte, ist aber keine kulturbildende Kraft. Nicht der Krieg, sondern das Fest, nicht die Waffe, sondern der Schmuck ist der Ursprung der Kultur. Geschichte und Kultur sind nicht deckungsgleich." And if so, so what?

Andererseits kann die Klärung von Begriffen von praktischem Nutzen sein. "Soziale Medien beschleunigen den Abbau der Gemeinschaft. Der Kapitalismus verwandelt die Zeit selbst in eine Ware. Dadurch verliert sie jede Festlichkeit." So zutreffend ich das auch finde, Festlichkeit ist weit entfernt von Untätigkeit. Das sieht Byung-Chul Han entschieden anders. "Das Fest ist frei vom Bedürfnis des schieren Lebens. Das Festmahl sättigt nicht, stillt keinen Hunger." Doch, doch, das tut es manchmal auch ...

Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit verschafft mir Einsichten, die ich höchst treffend und überraschend finde. "Die Erfahrung beruht auf Gabe und Empfang. Ihr Medium ist das Lauschen. Der gegenwärtige Informations- und Kommunikationslärm setzt aber der 'Gesellschaft der Lauschenden' ein Ende. Niemand lauscht. Jeder produziert sich."

In einfachen, klaren und deswegen überzeugenden Sätzen führt Byung-Chul Han aus, was die Untätigkeit ausmacht: "Wir tun zwar, aber zu nichts. Dieses Zu-nichts, diese Freiheit vom Zweck und Nutzen ist der Wesenskern der Untätigkeit. Es ist die Grundformel des Glücks." Umgekehrt liesse sich sagen: Die Umtriebigkeit, die unsere Gegenwart ausmacht, ist ein Rezept für Unglück.

Unsere Standardeinstellung ist zweckgerichtet, wir tun etwas, weil wir uns davon Positives versprechen. Absichtslos etwas zu betreiben ist uns nicht nur fremd, sondern erfüllt christlich geprägte Menschen (klar doch, ich rede von mir) zudem mit Schuldgefühlen. Das Handeln ist uns imperativ. Und genau deshalb sind die Ausführungen in diesem Band wichtig; sie helfen, zur Besinnung zu kommen. "Das Sein hat eine zeitliche Dimension. Es wächst im Langen und Langsamen. Die heutige Kurzfristigkeit baut es ab."

Wie bei Büchern von akademisch Tätigen üblich, werden ganz viele und ganz unterschiedliche Werke zitiert. Nietzsche, Proust, Benjamin, Barthes, Deleuze, Arendt, Novalis, Musil, Handke usw. Besonders beeindruckend: Wie Heideggers Weg vom Handeln zum Sein nachgezeichnet wird.

Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit illustriert auch meine Lieblingsaufforderung, die von einem brasilianischen Zen-Buddhisten stammt, Não pense, veja (Denke nicht, schau) anhand von Zitaten von George Santayana und Aristoteles, der über die Götter meinte: "Und doch hat man immer geglaubt, dass sie leben, also tätig sind, denn niemand denkt, dass sie schlafen wie Endymion. Nimmt man aber dem Lebendigen jenes Handeln und noch viel mehr das Schlafen, was bleibt dann noch ausser dem Betrachten?"

Fazit: Wesentlich, vielfältig anregend, hellsichtig und gelegentlich ärgerlich.

Byung-Chul Han
Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit
Ullstein, Berlin 2022

Mittwoch, 7. September 2022

Vor dem Denken

Vor gut hundert Jahren behauptete Sigmund Freud, wir seien nicht Herr im eigenen Haus. John Bargh, Professor für Psychologie an der Yale University, illustriert das in seinem Vor dem DenkenWie das Unbewusste uns steuert höchst eindrücklich. Wie von einem Akademiker nicht anders zu erwarten, zitiert er dabei eine Studie nach der anderen und die Resultate nicht weniger dieser Untersuchungen lassen einen staunen – und schmunzeln. So haben etwa gemeinsame Buchstaben im Namen einen Einfluss auf die Berufswahl, jedenfalls in englischsprachigen Ländern wie England und Amerika. „Es gibt verhältnismässig mehr Dennys, die Dentisten sind, und Larrys, die lawyers (Anwälte) sind, als das Zufallsprinzip erwarten liesse.“

Auch das Geburtsdatum hat vielfältigen Einfluss. Etwa auf die Wahl des Ehepartners. „Menschen heiraten unverhältnismässig oft jemanden, der oder die Ziffern ihres Geburtsdatums teilt.“ Zuneigung kann sich auch darauf gründen, am selben Kalendertag im selben Monat Geburtstag zu haben. Der Led Zeppelin-Fan John Bargh empfindet „ein seltsames und offensichtlich unverdientes Gefühl von Stolz, dass er seinen Geburtstag mit Led Zeppelin Leadgitarrist Jimmy Page teilt“ und ich selber fühle mich seit je Brigitte Bardot zugetan, die am selben Tag Geburtstag feiern kann wie ich auch.

Obwohl wir entscheidend von der Evolution geprägt sind, haben wir keine Erinnerung daran. „Bereits bei unserer Geburt sind wir mit fundamentalen inneren Antrieben ausgestattet, die sich in einer völlig anderen Periode der Menschheitsgeschichte herausgebildet haben.“ Zudem sind wir bis vor nicht allzu langer Zeit davon ausgegangen, es gäbe einen Primat des Bewusstseins. Mittlerweile wissen wir, dass dem nicht so ist und wir weitestgehend unbewusst funktionieren. „Unser primärer, ultimativer und evolutionär am stärksten ausgeprägter Drang – zu überleben und körperlich geschützt zu sein – ist die Grundlage vieler unserer Haltungen und Überzeugungen.“

Wir treffen unsere Entscheidungen meist in Sekundenbruchteilen, aus dem Bauch heraus. Sollen wir solchen Eingebungen trauen? Wie immer, es kommt drauf an, denn unbewusstes Denken hat auch Schwächen. John Bargh empfiehlt acht Grundregeln, die ersten beiden lauten wie folgt: Regel Nr. 1: Sichern Sie Ihr Bauchgefühl zumindest mit ein wenig bewusster Überlegung ab, sofern dafür Zeit bleibt. Regel Nr. 2: Bleibt Ihnen keine Zeit zum Nachdenken, dann lassen Sie sich von Ihrem Bauchgefühl nicht verleiten, für mindere Ziele grosse Risiken einzugehen.

Interessant und hilfreich finde ich vor allem Regel Nummer 6: Wir sollten unserer Einschätzung anderer Menschen allein anhand ihres Gesichts oder von Fotos nicht trauen, solange wir nicht mit ihnen direkt zu tun hatten. Der Grund? Die Evolution „hat uns nicht mit der Fähigkeit ausgestattet, Persönlichkeitsmerkmale aus statischen Abbildungen oder allein aus Gesichtszügen herauszulesen. Wir sind vielmehr von der Entwicklung her darauf angelegt, sehr sensibel auf den emotionalen Ausdruck einer Person zu achten – ob sie zum Beispiel traurig, angewidert oder panisch dreinschaut – , wenn sie in Aktion ist, das heisst mit uns oder anderen interagiert.“

Vor dem Denken. Wie das Unbewusste uns steuert macht unter anderem deutlich, wie entscheidend und grundlegend das Vertrauen für unser Handeln ist. So zeigen bereits Kleinkinder spontan Hilfsbereitschaft, ohne dass man sie darum bittet oder sie dazu auffordert, sofern „die Vorstellung eines persönlichen Vertrauensverhältnisses bei ihnen aktiv war.“ Und wir lernen sehr früh, ob unser Vertrauen gerechtfertigt war.

Doch wir sind unserem Unbewussten nicht einfach ausgeliefert, wir können es auch steuern. So wurden etwa Alkoholikern Bilder von alkoholbezogenen Objekten wie Flaschen, Korkenzieher, Krüge oder Weingläser gezeigt und sie aufgefordert, diese Objekte mittels eines Hebels von sich zu schieben. Das machten sie zwei Wochen lang regelmässig. In der Folge konnotierten sie Alkohol nicht mehr positiv, sondern negativ. Zudem: „Die Patienten zeigten eine signifikant niedrigere Rückfallquote (46 Prozent) gegenüber den Teilnehmern der Kontrollgruppe, die keine alkoholbezogenen Fotos gesehen hatten (59 Prozent).“

Wenn wir akzeptieren, dass wir keinen komplett freien Willen und auch keine allumfassende bewusste Kontrolle besitzen, so John Bargh, nimmt der Grad unseres wirklich vorhandenen freien Willens und unserer wirklich vorhandenen Kontrolle zu. Und das meint: Wir können lernen, die unbewussten Kräfte des Geistes effizient zu nutzen. Indem wir zum Beispiel unsere Vorsätze einhalten. Und unsere Umgebung verändern.

Vor dem Denken. Wie das Unbewusste uns steuert (Droemer Verlag, München 2018) ist ein spannendes, lehrreiches und überaus nützliches Buch!