Mittwoch, 30. März 2022

On Understanding & Respect

Torres, Rio Grande do Sul, Brazil, 23 February 2022

All my life I've felt the need to understand how the world ticks. In my younger years, this meant to go to the nearby kiosk and buy the Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, the Tagesanzeiger, and the NZZ. Such was my Saturday ritual that made me feel like an educated and thus a better man. 

This, however, has changed; I do not take these papers seriously anymore. Nowadays, I switch on my laptop and read the news online. Well, I do not really read them, I merely skim the articles for I have learned that the media are not out there to educate me but to make loud noise that accompanies events that would also take place without it,

Needless to say, this is not the reason that I believe the news are mainly a distraction. Media makers present me every day with an array of attention seekers I have no respect for. To really understand that means to turn to something or somebody that deserves my attention and respect – me, and what's in front of me.

Montag, 28. März 2022

Monster auf der Couch

Monster auf der Couch, verfasst von den beiden Schweden Jenny Jägerfeld, einer Psychologin, und Mats Strandberg, einem Schriftsteller, ist ein in vielerlei Hinsicht aussergewöhnliches Buch, was auch, aber nicht nur, an der cleveren und aufwendigen Gestaltung liegt. 

Eine Psychologin ist verschwunden in ihrem Büro findet die Polizei Aktennotizen, Gesprächsmitschnitte, Skizzen und Fotografien, die Aufschluss geben über ihre illustren Patienten, allesamt Figuren der Weltliteratur. Dr. Frankenstein, Dr. Jekyll, Dorian Gray sowie die Vampirin Carmilla.

Dr. Jekyll ist der erste, der die Psychologin aufsucht. Anhand des Gesprächsprotokolls – sie nimmt die Sitzungen heimlich auf und ergänzt die Abschrift mit selbstkritischen Einwürfen – lässt sich verfolgen wie eine Therapie abläuft. Dabei lernt man viel Nützliches (und eine smarte Psychologin kennen): Etwa, dass in allen ein von Trieben gesteuerter Mister Hyde steckt, der jedoch unterdrückt wird. Oder dass es wichtig ist, die Dinge beim Namen zu nennen.

Ein nicht unbeträchtlicher Reiz von Monster auf der Couch besteht darin, dass beim Gespräch mit Dr. Jekyll (und Mister Hyde), ein Mann des 19. Jahrhunderts auf eine Frau des 21. Jahrhunderts trifft. Sie notiert: „Ich bin mehrmals fast in die Luft gegangen. Ich habe nonstop versucht, mir in Erinnerung zu rufen, dass wir aus unterschiedlichen Welten stammen, dass es nicht seine Schuld ist, dass er gewisse völlig verquere Ansichten vertritt.“ Vor allem speziell ist jedoch, dass die Therapeutin davon berichtet, was für Gedanken, Überlegungen und Empfindungen die Begegnungen mit Jekyll und Hyde bei ihr auslösen. Deutlich wird dabei (zugespitzt formuliert): Eine Therapie zahlt sich vor allem für am Leben interessierte Therapeuten aus – sie lernen viel über sich und werden dafür noch gut bezahlt.

Doch selbstverständlich lernt auch der Patient einiges. So ist etwa Frankenstein, der ja selbst zum Schöpfer geworden ist, höchst erstaunt, dass seine Therapeutin ein Kind mit ihrer Frau bekommt. „Zwei Frauen, die ein Kind gezeugt haben? Haben Sie nicht gesagt, mein wissenschaftlicher Durchbruch sei bis heute unübertroffen? Wie haben Sie das geschafft? Haben auch Sie sich der Elektrizität bedient? …“.

Dorian Gray bezeichnet sie als spannenden Patienten. „Er sagt selbstmitleidig, dass andere sich nicht für sein Inneres interessieren, aber macht sofort dicht, wenn ich ihn dazu bewegen will, über seine Gefühle zu reden.“ Ich finde sie selber spannender. Sie leidet unter dem moralischen Imperativ Du sollst glücklich und gesund sein, hält den Satz, man sei seines eigenen Glückes Schmied, für völligen Humbug und teilt Slavoj Žižeks Meinung, „dass der Fokus auf den Genuss das Geniessen selbst sabotiert.“

Es ist insbesondere die Beschreibung des therapeutischen Prozesses, die mich für dieses Werk einnimmt. Dauernd muss ich schmunzeln, manchmal auch laut herauslassen. Da sagt etwa die Vampirin Carmilla: „Aber ich habe gar kein Problem, das ich in Worte fassen müsste. Für mich ist alles glasklar.“ Und als Laura schildert, was Carmilla bei ihr auslöst: „Manchmal ziehen sich die Küsse in die Länge und werden immer inniger. Mich packt bisweilen eine seltsame, heftige und doch angenehme Erregung, der sich indes aus Unruhe beigesellt.(errötet) Mein Herz schlägt schneller, der Atem wird flach und geht in ein Keuchen über, das in Konvulsionen gipfelt, bei denen ich die Besinnung verliere“, kommentiert die Psychologin mit: „Das klingt … heftig. Werde glatt eifersüchtig!

Der Titel Monster auf der Couch verlangt natürlich, wie alles, was Psychologen angehen, nach einer Erklärung, möglichst einer wertfreien. So führt die Therapeutin gegenüber Dr. Frankenstein aus: „Mein Problem mit der Bezeichnung Monster ist der Umstand, dass sie eine gewisse Bosheit unterstellt. Aber daran glaube ich nicht. (Pause) Ich glaube vielmehr, dass wir die Bezeichnung Monster bei Wesen anwenden, die wir nicht verstehen, weil sie sich anders verhalten als wir selbst oder auch anders aussehen.“ Und sie fügt hinzu: „Es gibt immer gute Gründe, uns so zu verhalten, wie wir es tun.“ Und weil sie das glaubt, sucht sie eben auch immer nach Gründen. Doch was wäre, wenn diese Gründe nicht ursächlich, sondern nachgereicht wären? Das jedenfalls behauptet die Hirnforschung: Das Handeln kommt zuerst, die Gründe folgen nach. Doch das wäre ein anderes Buch …

Monster auf der Couch ist nicht nur sehr unterhaltsam und überaus witzig, es klärt auch differenziert darüber auf, wie Therapie funktioniert. Zudem werden auch Spaltung oder Dissoziation, das Stufenmodell der moralischen Entwicklung gemäss Kohlberg sowie die Merkmale der narzisstischen Persönlichkeit erläutert.

Fazit: Ein höchst lehrreiches Vergnügen!

Jenny Jägerfeld & Mats Strandberg
Monster auf der Couch
Der rätselhafte Fall der verschwundenen Psychologin
Penhaligon, München 2022

Montag, 14. März 2022

David Sheff: Gefangen und Frei

 „Ich sitze auf einem schlichten Schalenstuhl aus Plastik einem Mann namens Jarvis Jay Masters gegenüber. Wir unterhalten uns über meine Idee, ein Buch über ihn zu schreiben, und ich möchte wissen, was er von ihr hält. Ich betone, dass ich, wenn ich mich wirklich darauf einlasse, nichts verheimlichen werde – weder seine guten noch seine schlechten Seiten.“ So leitet der Autor David Sheff dieses eindrückliche Dokument ein.

Jarvis Jay Masters sitzt wegen mehrerer Straftaten hinter Gittern, als ihm auch noch der Mord an einem Gefängniswärter, den er nicht begangen hat, angehängt wird. Er erhält Besuch von der Kriminalistin Melody Ermachild, die von der Verteidigung beauftragt worden ist, die Umstände, in denen er aufgewachsen ist, ausführlich zu dokumentieren. Sie regt ihn an, zu meditieren, teilt mit ihm die Anregungen ihres eigenen Meditationslehrers. „Wenn ihn Angst überkam und er sich an den Rat des Meditationslehrers erinnerte, dass Angst nichts als ein Gedanke sei und ihm nicht schaden könne, wurde sie schwächer.“

Er wird zum Tode verurteilt. Und so recht eigentlich, denkt es so in mir, sind wir alle zum Tode verurteilt. Im Gegensatz zu uns, die wir angesichts unseres Schicksal nichts tun bzw. im gewohnten Trott weitermachen, wird Jarvis aktiv. „Jarvis‘ selbst auferlegtes Training begann jeden Tag mit zwei Stunden Meditation, gefolgt von Körperübungen. Er notierte seine Fortschritte in einem Kalender, den er selbst gefertigt hatte: 400 Rumpfbeugen, 500 Liegestütze, 500 oder mehr Liegestützsprünge und das Ganze noch einmal. Danach lief er in seiner Zelle 520 Mal hin und her. Das ergab eine Meile. Anschliessend rannte er auf der Stelle …“.

Im Buch eines buddhistischen Lama liest er, dass sich im Tod der Körper vom Geist trenne und es daher wichtig sei, sich darauf vorzubereiten, damit man nicht „von einem grossen Wirbel der Angst, Orientierungslosigkeit und Verwirrung fortgerissen“ werde. Und er lernt, dass sowohl Angst wie auch Trauer „einzig und allein in Ihrem Geist“ existieren.

Er habe Glück, im Knast zu sein, schreibt ihm der Lama. Jarvis reagiert ungehalten, doch der Lama lässt sich nicht umstimmen, im Gegenteil. „Vielleicht sehen Sie es nicht, aber Ihr Glück besteht darin, an einem Ort zu sein, wo Sie das menschliche Leid so direkt erfahren. Dadurch können Sie verstehen lernen, dass alle lebenden Wesen einschliesslich Ihrer selbst bereits vollkommen sind. Lernen Sie, dies zu sehen!“

Erst wenn wir aus der Bahn geworfen werden, erst wenn die Dinge nicht so laufen wie wir es gewohnt sind, eröffnet sich die Möglichkeit einer Veränderung. Allmählich beginnt Jarvis zu realisieren, dass das Todesurteil, das seinen Tod bedeuten konnte, ihm das Leben geschenkt hatte.

Melody ermuntert ihn zu schreiben, seine Texte werden veröffentlicht, er lernt Pema Chödrön, eine buddhistische Nonne, kennen, die ihm klar macht, „dass man die Dinge, mit denen man zu kämpfen hatte, eben nicht hinter sich lassen sollte (…) dass Schmerz, Trauer und Verzweiflung nützlich seien, da man von ihnen lernen könne.“ Auch weist sie ihn darauf hin, dass es bei all den Geschichten, die wir uns erzählen, Pausen gibt, „und das ganz einfach deswegen, weil unser Geist so funktioniert.“ Diese Pause ist eine Chance, es gilt sie zu nutzen, „und sich zu sagen: ‚Jetzt bin ich wieder in dieser alten Geschichte.‘ Genau das ermöglicht es uns, diese loszulassen und sich wieder auf den Atem zu konzentrieren.“

Nicht nur bei der Meditation ist es wichtig, sich dieser Pausen gewahr zu werden – auch im Alltag ist es sinnvoll, immer mal wieder innezuhalten und sich die Zeit zu nehmen, um zu bedenken, was man eigentlich fühlt, denkt und tut. „Es gab nicht viel in seinem Leben, auf dass er einen Einfluss hatte, doch seinen Geist konnte er tatsächlich kontrollieren.“ Schwierig? Sowieso. Doch es lässt sich üben.

Jarvis Jay Masters‘ Geschichte, die David Sheff in diesem Buch erzählt, ist vor allem ein Lehrstück darüber, wie man in einer hoffnungslosen Lage nicht verzweifelt. Nicht in dem man hofft, sondern indem man sich grundsätzlich mit seinem Dasein auseinandersetzt. Es gilt nichts zu überwinden oder hinter sich zu lassen. Es gilt das Leben so hinzunehmen wie es ist – chaotisch, unbegreiflich, und staunenswert.

Gefangen und Frei ist ein überaus hilfreiches Buch.

David Sheff
Gefangen und Frei
Der Buddhist in der Todeszelle. Eine wahre Geschichte
O.W. Barth, München 2021

Montag, 7. März 2022

Hidden Valley Road

Familie Galvin, Vater Don, zuerst beruflich erfolgreich bei der Air Force, dann als „eine Art innerstaatlicher Diplomat“, Mutter Mimi, ausgelastet mit 10 Buben und zwei Mädels. Sechs der zehn Brüder wurden bis Mitte der 1970er-Jahre mit Schizophrenie diagnostiziert. Der Journalist Robert Kolker erzählt mit Hidden Valley Road nicht nur eine Familien-, sondern auch eine Medizingeschichte.

12 Kinder! Was bewegt ein Paar, so viele Kinder zu haben? Natürlich kann man das nicht wirklich wissen – nicht einmal die Beteiligten können das, schliesslich sind wir Menschen viel zu komplex, um zu verstehen, was uns so oder anders ticken lässt – , doch Robert Kolker tut, was gute Journalisten tun: Er liefert eine plausible Erklärung (wahrscheinlich ein Ausweichmanöver, um sich den schmerzlichen Enttäuschungen in ihrem Leben nicht stellen zu müssen) und präsentiert gleichzeitig die Einschätzung der nicht gerade wohlmeinenden Schwiegermutter (es sei Mimis Methode im Wettstreit mit Don die Oberhand zu haben).

Charakteristisch sowohl für Don als auch für Mimi war, dass sie Unangenehmes generell einfach ausblendeten. Als ihr ältester Sohn wegen seines bizarren Verhaltens psychiatrisch untersucht wurde, machten sie in Zweckoptimismus, wobei sie ein psychiatrischer Freund unterstützte, der allerdings unzureichend informiert war. Und als die Frau des Zweitältesten sie mit dem gewalttätigen Verhalten ihres Stimmen hörenden Sohnes konfrontierte, erlebte sie Eltern, die nicht bereit waren, die Realität zu akzeptieren. Es gab viele heftige Streitereien, Gewalt und Missbrauch in ihrem Haus an der Hidden Valley Road, auch die Polizei tauchte öfters auf – wahrhaben wollten sie das nicht. Trotzdem kümmerten sie sich, vor allem Mimi, sehr um die Kinder.

Die damalige Psychiatrie war unter anderem charakterisiert durch den Streit (und nachfolgenden Bruch) von Freund und Jung. Für Freud waren seelische Erkrankungen das Resultat prägender (und oft sexueller) Kindheitserlebnisse, Jung hingegen war der Auffassung, dass „das Konzept der Libido durch einen genetischen Faktor ergänzt werden“ müsse.

Anlage oder Einfluss der Umwelt? Diese Frage prägt unter anderem die Schizophrenie, die natürlich auch eine Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Theorien bildet. Wobei: Ich frage mich schon wie man jemanden wie Jacques Lacan, der zum berühmt gewordenen Fall Schreiber meinte, „Schreibers Probleme seien seiner Frustration darüber entsprungen, nicht der Phallus sein zu können, der seiner Mutter gefehlt habe“, eigentlich ernst nehmen kann.

Wie alles, so hat sich auch die Vorstellung, was denn Schizophrenie eigentlich ist bzw. sein soll, im Laufe der Zeit gewandelt. Und so recht eigentlich sagen die Definitionen mehr über das vorherrschende Denken der jeweiligen Zeit als über die Krankheit. Dazu kommt, dass die Diagnosestellung mehr Kunst als Wissenschaft ist.

Die zentrale Frage lautet: Wie kann es sein, dass sechs von zwölf Kindern eine Schizophrenie entwickeln, die anderen sechs aber nicht? Eine genetische Vorbedingung scheint definitiv gegeben, muss aber offenbar nicht notwendigerweise vererbt werden. Wie konnte das sein? Hidden Valley Road ist auch eine spannende Psychiatrie-Geschichte.

Nachdem einer ihrer Söhne seine Freundin und sich selber umgebracht, und weitere Söhne in der Psychiatrie landeten, begannen sich auch die Eltern Fragen zu stellen. War es vielleicht jeweils ein emotionaler Schock gewesen, der die Brüder aus der Bahn geworfen hatte? Lag es an den Drogen, der Gegenkultur, am Missbrauch durch einen Priester? „Es war traurig festzustellen, dass, als der Patient zunehmend provokativ wurde, dies die Familie offenbar für seinen Normalzustand hielt“, notierte ein Arzt.

Dieses Buch schildert ganz Vieles in Einem: Ein aussergewöhnliches und tragisches Familienschicksal, die Bemühungen und Hilflosigkeit der Psychiatrie, die Forschung der von Marketing-Erwägungen dominierten Pharmaindustrie, das Amerika zur Zeit der Gegenkultur, und und und … , doch insbesondere die Unfähigkeit des Menschen, einen ernsthaften, ehrlichen Blick auf das eigene Leben zu werden. Ob letzterer im vorliegenden Falle geholfen hätte, weiss man nicht, doch dass darauf zu verzichten keine Option ist, zeigt dieses gut geschriebene Buch eindrücklich.

Fazit: Aufwühlend, faszinierend und überaus lehrreich.

Robert Kolker
Hidden Valley Road
Im Kopf einer amerikanischen Familie
btb, München 2021