Es gibt Bücher, von denen weiss man, bevor man überhaupt zu lesen begonnen hat, dass man sie mögen, ja schätzen wird. Das kann daran liegen, dass einem der Buchumschlag gefällt oder daran, dass man mit dem Namen des Autors Positives verbindet oder an Umständen, die einem selber nicht bewusst sind. Zugegeben, ich spreche von mir. Und bei mir trifft im vorliegenden Fall das alles zusammen zu.
Mit Tolstoi verbinde ich "Krieg und Frieden", das ich vor einigen Jahren in China gelesen habe. Zur gleichen Zeit wie ein chinesisch-stämmiger kanadischer Freund (er auf Englisch, ich auf Deutsch) – uns beiden machte genau dieselbe Stelle den grössten Eindruck: Als Fürst Andrej verletzt auf dem Schlachtfeld liegt und angesichts des unendlichen Himmels über ihm plötzlich weiss, dass alles eitel und nur Lug und Trug ist.
Tolstoi war ein Moralist mit hohen Ansprüchen an sich selber. Das vorliegende "Lebensbuch" versammelt Gedanken aus einer grossen Anzahl Schriften und Textsammlungen. Es ist "ein Buch der Stärkung, auch der Selbstvergewisserung, das Tolstoi sich schuf in dem Wunsch, ein besserer Mensch zu werden", schreibt Volker Schlöndorff in seinem Geleitwort. Und Ulrich Schmid vermerkt im Nachwort: "Der Sinn des menschlichen Lebens besteht für Tolstoi darin, durch asketische und philosophische Übungen aus den falschen gesellschaftlichen Konventionen 'aufzuwachen' und sich zur wahren Religion zu bekehren."
Tolstoi geht es mit diesem Buch darum, "unter Zuhilfenahme grosser, fruchtbarer Gedanken verschiedener Schriftsteller einem weiten Leserkreis eine leicht fassliche Lektüre für alle Tage zu bieten, die geeignet ist, nur die besten Gedanken und Gefühle zu wecken", wie er in seinem Vorwort vom März 1908 schrieb.
Neben der Tageslektüre, die Gedanken unterschiedlicher Autoren aufführt (von Lichtenberg über Kant zu Konfuzius) enthält dieser dicke Band auch Wochen- und Monatslektüren über Weltanschauliches wie 'Göttliches und Menschliches' oder 'Forderungen der Liebe'. Ich staune ob der Schaffenskraft dieses Mannes. Diese monumentale Zusammenstellung alleine wäre genug für ein ganzes Arbeitsleben!
Mich verblüfft und begeistert die Breite der Themen, die angesprochen werden und da ich nicht weiss, wie man ein solches Werk, das sich bestens zur Tagesmeditation eignet, besprechen könnte, möchte ich ein paar Gedanken zitieren, ganz willkürlich, so wie sie mir beim Durchblättern aufgefallen sind.
"Sonderbar! Der Mensch empört sich über das Böse, das von aussen her, von anderen kommt, das er nicht beseitigen kann, aber das eigene Böse bekämpft er nicht, obwohl das in seiner Macht stünde." (Mark Aurel). "Verdamme deinen Nächsten nicht, bevor du in seiner Lage warst." (Talmud) "Die Menschen sind tausendmal mehr bemüht, sich Reichtum als Geistesbildung zu erwerben; während doch ganz gewiss, was man ist, viel mehr zu unserm Glücke beiträgt, als was man hat." (Schopenhauer) "Unterweise dein Herz. Lass dich nicht von ihm unterweisen." (Buddhistischer Spruch).
Es ist eine bestechende Idee, sich jeden Tag einige Gedanken vorzunehmen, die auf Wesentliches hinweisen. Passenderweise hat Tolstoi zum Auftakt (dem 1.Januar) entschieden, sich das Lesen vorzunehmen und lässt dazu Schopenhauer, Emerson, Seneca, Thoreau und Locke zu Worte kommen. Letzteren damit: "Wir sind aus dem Geschlecht der Wiederkäuer, und es genügt nicht, dass wir uns mit allerlei Bücherwust vollstopfen: Falls wir nicht alles ordentlich wiederkäuen, gewähren uns die Bücher keine Kraft und keine Nahrung."
Das Allerwesentlichste hat sich Tolstoi zum Schuss aufgespart. Mögen wir, eingedenk unseres Geschlechts als Wiederkäuer, immer wieder darauf zurückkommen:
"Es gibt keine Zeit. Es gibt nur die unendlich kleine Gegenwart.
In ihr vollzieht sich das Leben.
Deshalb sollte der Mensch all seine geistigen Kräfte
auf die Gegenwart richten."
Lew Tolstoi
Für alle Tage
Ein Lebensbuch
C.H. Beck, München 2021