"Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität", so der Untertitel. Muss man denn zu Spiritualität wirklich "ermutigen"? Und falls ja, würde Spiritualität nicht genügen? Warum muss es "mehr" sein? Meines Erachtens leben wir in Zeiten, denen die Spiritualität abhanden gekommen ist und es schon reichen würde, sie wieder zu entdecken.
Markolf H. Niemz stellt in diesem originell und leserfreundlich gestalteten Buch "sechs Challenges" (dass das Lektorat solche völlig unnötigen Anglizismen durchgehen lässt, befremdet mich) vor, die zeigen, "was passiert, wenn man den Blickwinkel ein wenig ändert und eine alte fernöstliche Weisheit einbezieht."
Raum und Zeit, Sein und Werden, Gut und Böse, Huhn und Ei, Schöpfer und Schöpfung, Liebe und Verständnis sind die Themen, die in "Die Welt mit anderen Augen sehen" abgehandelt werden und durch ein "Bonuskapitel" über "Einsteins Relativität und Nahtoderfahrungen" sowie einen "Talk" mit dem Autor (wo der Fragesteller als reiner Stichtwortgeber fungiert) ergänzt werden. In letzterem findet sich auch der wunderbar hilfreiche Satz: "Nicht ich bin unsterblich – unsterblich ist das Leben, das ich hier und jetzt lebe!"
Markolf Niemz plädiert dafür, vermehrt auf Zusammenhänge zu achten, vor allem im Alltag, denn nur so lässt sich das grössere Ganze sehen und erleben. "Wer sich stets durchsetzt, wird nie eine glückliche Partnerschaft eingehen. Wer Gewalt ausübt, wird nie in Frieden leben. Wer andere Menschen ausgrenzt, wird nie das grosse Ganze verstehen. Der Kosmos und jedes in ihm lebende Wesen sind ein unteilbarer, sich kontinuierlich entfaltender Prozess."
Dass ein Perspektivenwechsel oft nützlich sein kann, leuchtet ein. Die Beispiele, die der Autor aufführt, überzeugen nicht zuletzt, weil er einfach und klar darzulegen versteht, was das praktisch bedeutet. Hier nur soviel: Die Dualität ist ein Gefängnis.
Von Newton und Kant, von Parmenides und Heraklit, von Leibniz, Darwin, Hawking, dem Dalai Lama und anderen ist die Rede. Und ganz besonders von Alfred North Whitehead, der unter anderem meinte: "Alles sei rational, das heisst, es existiere bloss in einer gefühlten Beziehung zu allem anderen. Demnach kann auch jedes Elektron fühlen: Indem es im Atom ein elektromagnetisches Feld 'fühlt', wird es auf seine Umlaufbahn gelenkt. Erst 'Fühlen' macht es zu einem Elektron."
Es sind solche hilfreichen Ausführungen, die mich für dieses auch ästhetisch ansprechende Buch einnehmen. Und natürlich spricht mich dieses Werk auch deshalb an, weil ich die für mich wesentlichste Aussage des Autors teile: "Ich bin glücklich, wenn ich 'ja' zu allem sage, was ist, und mit dieser Haltung meinen nächsten Schritt gehe."
"Leben Sie so, dass Ihre Rückschau möglichst angenehm sein wird", rät Markolf Niemz seinen Lesern. Ich will diese Aufforderung gerne beherzigen.
Fazit: Vielfältig anregend und von praktischer Relevanz.
Markolf H. Niemz
Die Welt mit anderen Augen sehen
Ein Physiker ermuntert zu mehr Spiritualität
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2020
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