Nichts genügt, alles soll besser werden, auch der Mensch. Nicht mit sich selber zufrieden zu sein, ist dem Menschen so recht eigentlich Schicksal. Dass er danach trachtet, über sich selbst hinauszuwachsen, ist ihm eigen, immer schon. Das Ausmass der gegenwärtigen Unzufriedenheit mit sich selber, wenn denn die Self Help-Abteilungen der Buchläden ein verlässlicher Indikator sind, verwundert hingegen nicht nur, sondern sollte zu Besorgnis Anlass geben, denn es scheint, dass da ganz grundsätzlich Einiges falsch läuft.
Das Leben ist ein ständiges Hin und Her, von Heute Hui geht es schnurstracks zu Morgen Pfui. Prof. Dr. Svend Brinkmann, Psychologe, ist das überdrehte "Hauptsache Positiv"-Mantra der Self Help Bücher dermasssen aufgestossen, dass er sich mit einem genauso blöden "Hauptsache Negativ" heftig dagegen wehrt. Könnte man jedenfalls meinen, wenn man den Titel seines Buchs Pfeif drauf! Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn oder die sieben Punkte, die er als Gegenmittel vorschlägt, wörtlich nimmt.
Nehmen wir den ersten: "Hören Sie auf, in sich selbst hineinzublicken." Denn dieses Selbst sei nichts anderes als eine Idee, eine Konstruktion. Weshalb es denn auch sein könnte, dass wenn wir tief in uns hineinblicken, wir da gar nichts finden werden. Nun ja, als Erkenntnis wäre das ja schon mal nicht schlecht, doch setzt es voraus, dass man mal den Versuch gemacht hat.
Der zweite der sieben Punkte heisst: "Fokussieren Sie sich auf das Negative in ihrem Leben." Dass es heutzutage eine Tyrannei des Positiven gibt, wie Prof. Brinkmann beklagt, ist für mich keine Frage, doch weshalb dann gleich ins andere (und weitaus dümmere) Extrem verfallen? Lässt man die der Werbung/dem Verkauf geschuldete Plattheit (und Provokation) dieser Behauptung ausser Acht und fokussiert sich auf des Professors Ausführungen, stösst man auf Vernünftiges, Realistisches und Naheliegendes. "Wir müssen uns das Recht zurückerobern, zu denken, dass etwas einfach nur schlecht ist – und das ohne Vorbehalte." Eine Selbstverständlichkeit, die vermutlich Nicht-Studierten geläufiger ist als Studierten.
Ich habe nicht vor, auf jeden der sieben Punkte einzugehen, denn so recht eigentlich gipfeln sie alle darin, dass wir uns das Leben nicht schön reden (es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung), sondern so nehmen sollen, wie es nun einmal ist – nicht perfekt. Und auch wir Menschen sind nicht perfekt und sollen es auch gar nicht sein.
Zugegeben, das sehen nicht alle so. Weshalb sie denn auch in einem unnötigen Masse leiden. Die Suche/das Streben nach Perfektion kann krankhafte Züge annehmen. Wie alles, das extrem betrieben wird. Wie etwa das Authentisch-Sein, das für viele einen Wert an sich darstellt. Allerdings wird dabei vergessen, dass es auch authentische Trottel gibt.
Prof. Brinkmann erklärt sich den allgegenwärtigen Selbstoptimierungswahn damit, dass es schwieriger geworden ist, Wurzeln zu schlagen und Stabilität zu erlangen. Wir sind Gefangene einer schnelllebigen Zeit, in der Flexibilität gefragt und gefordert ist. Wer ständig gehetzt durchs Leben rennt, hat kaum einmal Zeit, um innezuhalten und sich zu fragen, was das Ganze eigentlich soll bezw. ob man wirklich so gehetzt leben will
"Meine Grossmutter", schreibt Svend Brinkmann, "pflegt des Öfteren zu sagen, man solle mit dem Leben 'zurechtkommen', Treten Probleme auf, sollten wir ihrer Meinung nach nicht danach streben, sie zu 'lösen'. Das wäre zu viel verlangt." Anstatt sich zu finden versuchen, wäre es oft gescheiter, sich mit sich abzufinden.
Von der positiven Visualisierung werden wohl die meisten schon gehört haben. So werden etwa Sportler beim Training dazu angeleitet, ein Ziel zu visualisieren, damit es erreicht werden kann. Funktioniert das? Schwer zu sagen (wie soll man das auch messen?), doch mir scheint der Ansatz plausibel. Und was meint Prof. Brinkmann? Er geht gar nicht darauf ein, sondern empfiehlt, was er "die negative Visualisierung der Stoiker" nennt und ein ganz falscher Begriff für etwas höchst Hilfreiches ist.
Die Stoiker haben unter anderem gelehrt, dass alles im Leben nur geliehen sei und jederzeit wieder genommen werden könne. Und dass wir uns mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen sollten. "Memento mori – bedenke, dass du sterben wirst! Denken Sie jeden Tag daran. Doch nicht auf eine Weise, die Sie lähmt oder verzweifelt macht, sondern so, dass Sie sich schrittweise an den Gedanken gewöhnen und das Leben besser wertschätzen können." Wahre und hilfreiche Worte! Was sie mit 'negativer Visualisierung' zu tun haben sollen, ist mir hingegen schleierhaft.
Svend Brinkmann nimmt sehr oft Bezug auf den Stoizismus. Zentral ist ihm dabei keine theoretische, sondern eine pragmatische Sichtweise. Ihn interessiert die Frage, "inwieweit diese Philosophie angesichts heutiger Probleme von Nutzen sein kann," Für mich selber ist das keine Frage, ich halte diese Lebensphilosophie, bei der Standhaftigkeit und Gelassenheit im Zentrum stehen, für weitaus sinnvoller als Anleitungen zur Selbstoptimierung.
PS: Svend Brinkmann empfiehlt die Lektüre von Murakami, Houellebecq und Knausgard, weil die drei konkret, nüchtern und illusionslos schreiben. Denn nichts hilft uns besser in der Gegenwart anzukommen, als unsere Illusionen zu verlieren.
Svend Brinkmann
Pfeif drauf!
Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn
Knaur Verlag, München 2018
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen