Vor zwei Tagen bin ich beim AA-Treffen
auf einen Deutschschweizer getroffen. Hugo heisst er, wirkt
sympathisch. Sein Apartment liegt nur ein paar Häuser weiter, auch
in der Soi 1. Nach dem Treffen sind wir zusammen essen gegangen, habe
ihm von meinen Rachefantasien erzählt, sehr allgemein. Er schien
ganz interessiert. Von meinen beiden Probeläufe in Zürich und St.
Gallen habe ich nichts gesagt. Vielleicht lässt sich was zusammen
machen. Muss ihn zuerst besser kennenlernen.
Heute morgen traf ich ihn zufällig im
Coffeeshop beim Landmark. Er war alleine dort, mit der Bangkok Post
und The Nation. Ich begann ihn über sein Coaching-Buch auszufragen.
„Für wen schreibst Du es?“
„Für mich. Ich will mir über mich
selber klar werden. Schreiben ist für mich Therapie.“
„Okay. Mein Frage zielte auf etwas
anderes. Wer ist dein Zielpublikum?“
„Diejenigen, die von Therapien nichts
halten.“
„Für die gibt es Sport oder
Selbsthilfegruppen wie die AA.“
„Stimmt. Also für die, welche mehr
wollen, als die AA ihnen bieten können.“
„Etwas Besseres als die 12-Schritte
gibt es meiner Meinung nach nicht. Was fehlt dir denn bei den AA?“
„Das Programm ist schon gut, doch die
meisten verstehen es nicht. Ich habe es auch lange nicht verstanden.“
„Es kann auch wirken, wenn man es
nicht versteht. Es zu praktizieren reicht. Also noch einmal: Was
fehlt dir?“
„Ich bin ein Suchthaufen, ich kriege
nie genug, von gar nichts. Mir fehlt immer irgend etwas. Damit muss
ich leben.“
„Verstehe. Und doch nicht. Ich meine,
wozu schreibst du ein Buch? Du musst doch eine Botschaft haben ...“.
„Hab ich ja. Dass es keine gibt, das
ist meine Botschaft. Und man sich damit abfinden muss.“
„Ziemlich deprimierend.“
„Für mich nicht. Ich habe ein Leben
lang nach der richtigen Botschaft, dem Schlüssel, der Erleuchtung
gesucht. Und immer mal wieder auch gefunden. Hat aber leider nie
lange angehalten.“
„Mit dem Verliebtsein ist es auch
so.“
„Genau.“
„Doch worauf willst du mit deinem
Buch hinaus?“
„Wie gesagt, zuallererst war das
Schreiben eine Selbsttherapie. Ich bin mir klarer darüber geworden,
was mich ticken macht. Mein Lebensproblem, ja eigentlich alle meine
Probleme, gründen in Angst. Vor dem Leben, vor dem Tod, vor dem
Sterben, so recht eigentlich macht mir alles Angst. Und ich denke, es
geht allen so, doch nicht im selben Ausmass. Bei mir ist sie heftig.
Davonlaufen funktioniert nicht, sie holt mich immer wieder ein.
Natürlich motiviert sie mich auch. Ich habe versucht, mich ihr zu
stellen. Und zeige in meinem Buch jetzt auf, wie ich das gemacht habe
und mache. Gut möglich, dass das auch für andere ein Ansatz sein
könnte.“
„Sicher, doch wahrscheinlicher
scheint mir, dass die meisten nichts davon wissen wollen.“
„Aus Angst“, lachte Hugo.
„Na ja, allein von dir aus zu gehen,
scheint mir dann doch reichlich egozentrisch.“
„Überhaupt nicht, ich halte mich
nicht für eine derartige Ausnahme. Ich denke, andere empfinden
genauso.“
„Doch nicht alle wollen sich ihrer
Angst stellen. Vielleicht auch, weil sie viel zu viel Angst vor ihrer
Angst haben.“
„Das respektiere ich, doch mit
solchen Leuten will ich nichts zu tun haben, denn die verstehen mich
nicht einmal ansatzweise.“
Als Hugo das sagte, da wusste ich, dass
ich einen zutiefst verletzten Mann vor mir hatte.
Aus: Hans Durrer: Herolds Rache. Fehnland Verlag, 2018
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