Der Titel Werde, wer du wirklich bist suggeriert, dass wir so recht eigentlich noch nicht wir selber sind, dass es etwas in der Tiefe unseres Selbst gibt/geben muss, das ausgegraben und hervorgeholt werden sollte: Das Wahre Selbst.
"Wir sind für die Transzendenz, für endlose Horizonte gemacht, aber unser kleines Ego steht uns normalerweise im Weg – bis wir seine kleinlichen fixen Ideen durchschauen und uns endlich auf die Suche nach einer tieferen Wahrheit machen. Es ist wohl wie bei der Suche nach Diamanten. Wir müssen tief schürfen und zögern doch, schrecken womöglich davor zurück (...) Wir haben uns immer davongestohlen, haben uns davor gedrückt, erwachsen zu werden und uns ernsthaft auf die Suche nach unserem Wahren Selbst zu machen."
Doch was soll das sein, dieses Wahre Selbst? Für Richard Rohr, geboren 1943, ist es die Seele und das Falsche Selbst unser Ego. Über letzteres, das meist der Anerkennung, der Bestätigung durch andere bedarf, sagt der Trappistenmönch Thomas Merton: "Wenn ihr nur gelernt habt, erfolgreich zu sein, ist euer Leben wahrscheinlich sinnlos."
Doch was ist die Seele? Nichts anderes als unsere angeborene Identität, ist Richard Rohr überzeugt, und diese ist schwer zu fassen, was auch "die Klugheit des ursprünglich griechischen Wortes Psyche (Seele) offenbart: Psyche bedeutet wörtlich 'Schmetterling'". Kein Wunder also, entzieht sie sich unserem Zugriff.
Das Wahre Selbst muss, im Gegensatz zum Falschen Selbst, weder erarbeitet noch verdient werden. "Es ist ein für alle Mal Gnade, für uns alle und für alle Zeit, ohne Ausnahme. Sie steigen nicht zu Ihrem Wahren Selbst auf. Sie fallen hinein, weshalb ich Ihnen dazu rate, das Fallen nicht ganz zu vermeiden."
Das Falsche Selbst besteht aus Äusserlichkeiten. Aussehen, Erfolg, berufliche und soziale Stellung etc., also das, wofür wir uns halten und von dem wir gleichzeitig wissen, dass das nicht alles sein kann, dass da etwas fehlt beziehungsweise etwas ganz grundsätzlich nicht stimmt in 'der Welt.' "'Die Welt' in der Bibel ist ein System wechselseitiger Schmeichelei und ständiger Belohnung des Falschen Selbst."
Immer mehr Bewohner dieser 'Welt' empfinden mehr als nur ein Unbehagen angesichts der Tatsache, dass immer weniger immer reicher und immer mehr immer ärmer werden. Viele gescheite (und weniger gescheite) Ökonomen, Soziologen und Schriftsteller haben nachdenklich machende Bücher darüber geschrieben, was "unser" System alles falsch macht – einige bleiben auf der Strecke, andere, sofern sie es vermögen, unterziehen sich einer Therapie. "Eine gute Therapie verhilft Ihnen zu Strategien, wie Sie in einer Welt überleben, die voll von Erscheinungsformen des Falschen ist, also in der öffentlichen Welt von Wirtschaft, Politik, Unterhaltung und Leistungssport."
Die geistliche Beratung, die dem Franziskanerpater Richard Rohr (der Therapie nicht etwa ablehnt, sondern auch mit ihr arbeitet) näher steht, ist grundsätzlicher – hier geht es um eine völlige Neuausrichtung des Selbst. Seine Argumenation – wenig überraschend – gründet hauptsächlich auf biblischen Quellen (und macht einem damit auch den Reichtum der Bibel zugänglich), aber eben nicht nur. Auch Katharina von Siena, Ken Wilber, Flannery O'Connor, C.G. Jung, Bill Wilson und andere kommen zu Wort.
So sehr ich mit des Autors zentraler Botschaft einig gehe ("Sobald Sie wissen, dass Leben und Tod nicht zweierlei sind, sondern Teil eines Ganzen, werden Sie anfangen, die Wirklichkeit auf eine ganzheitliche, nicht aufgespaltene Weise zu sehen, und aus dieser Veränderung ergibt sich alles andere."), hat mich seine Argumentation oft irritiert. Da schreibt kein Zweifler, sondern ein fest Glaubender ("Wer lebt? Das Göttliche Selbst, das immer gelebt hat, jetzt aber Sie mit einschliesst"), was natürlich nicht gegen ihn spricht, doch bei mir sofort Skepsis hervorruft, denn niemand (und das schliesst die Verfasser der Bibel mit ein) kann verlässliche Angaben über die Ewigkeit (falls es sie denn geben sollte) machen.
Nichtsdestotrotz: Werde, wer du wirklich bist ist nicht nur ein höchst anregendes, sondern ein notwendiges Buch – für Menschen, die sich wirklich mit ihrem Leben auseinandersetzen wollen. "Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass die grossen Meister wie Jesus und Buddha, der heilige Franziskus, sämtliche Teresas (die von Ávila, Lisieux und Kalkutta), Hafis, Kabir und Rumi allesamt wesentlich mehr vom Sterben reden, als wir es gern hätten. Sie alle wissen: Wenn wir die Kunst des Sterbens und Loslassens nicht früh erlernen, werden wir viel zu lange an unserem Falschen Selbst festhalten – bis es uns umbringt."
Richard Rohr
Werde, wer du wirklich bist
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2017