Mittwoch, 28. September 2016

Besser scheitern

Immer versucht.
Immer gescheitert.
Einerlei.
Wieder versuchen.
Wieder scheitern.
Besser scheitern.

Samuel Beckett

Mittwoch, 21. September 2016

Gesetze der Medizin

Der Mediziner und Autor Siddhartha Mukherjee erhielt 2011 den Pulitzer Preis für sein Buch Der König aller Krankheiten: Krebs - eine Biographie. Mit Gesetze der Medizin legt der S. Fischer Verlag nun seine, wie es im Untertitel heisst, Anmerkungen zu einer ungewissen Wissenschaft vor. Das Buch ist auf der Grundlage von Mukherjees TED Talk entstanden. 

Ist die Medizin eigentlich eine Wissenschaft?, fragt sich der Mediziner Mukherjee. Sicher ist, dass die Medizin in den letzten Jahrzehnten mit spektakulären technischen Innovationen aufgewartet hat, doch machen diese noch keine Wissenschaft aus; "sie beweisen lediglich, dass die Medizin wissenschaftlich ist – das heisst, therapeutische Eingriffe basieren auf den rationalen Prinzipien der Pathophysiologie."

Wissenschaft zeichnet sich durch Gesetze aus. Dabei handelt es sich um "Aussagen, deren Wahrheitsgehalt auf wiederholten experimentellen Beobachtungen einiger universeller oder verallgemeinerbarer Naturattribute gründet." Das ist in grossem Ausmass in der Physik der Fall, in kleinerem in der Chemie und in einem wesentlich kleinerem in der Biologie.

Siddhartha Mukherjee macht sich auf die Suche nach Gesetzen der Medizin. Das erste, das er entdeckt, ist dieses: Ein gutes Gespür ist aussagekräftiger als ein schwacher Test.

Was man testet, ist das Eine (wer blöde fragt, kriegt blöde Antworten), wie man das Testresultat interpretiert, das Andere. "Man muss eine Ahnung haben, bevor man Ahnung hat."

Überaus spannend ist Mukherjees Vorgehen. So zeigt er etwa anhand der Astronomie auf, wie Gesetze gefunden werden können. Viele Jahrhunderte hatte das ptolemäische Weltbild Gültigkeit, gemäss dem die Erde im Zentrum des Sonnensystems sass. 1512 wurde es vom kopernikanischen Modell, das die Sonne ins Zentrum der Planeten stellte, abgelöst, nur stellte sich dann heraus, dass die Umlaufbahnen keine exakten Kreise, sondern Ellipsen waren. Darauf gekommen war Kepler, der sich so die Schleifenbewegungen des Mars erklären konnte  er hatte sich an der Ausnahme und nicht an der Regel orientiert.

Doch was hat das alles mit den Gesetzen der Medizin zu tun? Die Medizin orientiert sich am Normalfall anstatt an den Exoten. "Es gibt den Durchschnittsdiabetiker, den typischen Herzschwächepatienten, und den Krebskranken, dessen Reaktion auf eine Chemotherapie dem Standard entspricht. Doch wir wissen wenig über die Ursachen, die dazu führen, dass ein Individuum ausserhalb des normalen Spektrums liegt. Mit Hilfe der 'Normalos' stellen wir Regeln auf – die 'Ausreisser' dagegen fungieren als Portale tieferer Gesetze."

Gesetze der Medizin ist eine wunderbar anregende Lektüre!

Siddharta Mukherjee
Gesetze der Medizin
Anmerkungen zu einer ungewissen Wissenschaft
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2016

Mittwoch, 14. September 2016

Was vom Helfen übrig bleibt

Geht es um Fragen der Seele, des Gemüts und der Haltung, fühle ich mich bei Romanen (das schliesst Krimis mit ein) meist besser aufgehoben als bei Sachbüchern von einschlägig Diplomierten. Und Katja Lange-Müllers Drehtür zeigt höchst überzeugend auf, warum dem so ist. Selten habe ich intelligenter, reflektierter, pointierter und witziger über das Helfen gelesen.

"Das Bedürfnis, dem Artgenossen beizustehen, das wir mit vielen Tieren teilen, selbst so niederen und unsympathischen wie Wespen oder Ameisen, nannten und nennen neunmalkluge Schwachköpfe Helfersyndrom, als sei das eine multiple, entsprechend komplizierte Krankheit, eine Psycho-Seuche, die nur Exemplare unserer Gattung befällt. Warum zum Henker soll es krank sein, den Menschen gesund sehen zu wollen – oder tot, falls Heilung nicht möglich ist? Und was würde aus der Welt, wenn alle auf dem Gebiet der Medizin Tätigen plötzlich kuriert wären von diesem angeblichen Helfersyndrom, wenn sie es unwiederbringlich verloren hätten?! Katastrophaleres als jede Katastrophe spielte sich ab in den Städten und Dörfern, den Wäldern, Steppen, Wüsten sämtlicher Länder unseres verkommenen Planeten."

Ich will hier nicht die Handlung dieses Buches umreissen, ich will hier nur auf einige Aspekte aufmerksam machen, die meines Erachtens die Lektüre nicht nur lohnen, sondern zu einem intellektuellen Genuss höchster Güte machen. Da ist zunächst einmal die sprachliche Genauigkeit, denn die Autorin macht sich Gedanken über Dinge, die den meisten (ich schliesse mich ein) wohl gar nie auffallen.

" ... Gesundheit, vollkommene, gänzlich beschwerdefreie Gesundheit, die gibt es nicht, schon gar nicht im Gesundheitswesen. 
Gesundheitswesen, wieder so ein blödsinniger Begriff! Was, zum Henker, soll das sein, ein Gesundheitswesen? Lebewesen, ja, die kennen wir. Aber Gesundheitswesen. Wie habe ich mir die vorzustellen?!"

"Krankenschwester, das Wort rührt von den ersten Krankenschwestern her, die ja generell Nonnen, also Ordensschwestern, gewesen waren, und es tönt, als wären sie alle, als wären wir Krankenschwestern alle, zumindest solange wir unseren Beruf ausüben – wieder so ein dämliches Wort – , blutsverwandt mit allen Kranken, die es auf Erden gab, gibt und geben wird. Doch zu den Pflegern sagt niemand Krankenbrüder, obwohl deren Stammes- oder Standesväter ebenfalls dem einen oder anderen katholischen Orden dienten und bis heute dienen ..."

An der Frankfurter Buchmesse wird die Autorin und Krankenschwester Tamara mit Indern bekannt  und in der Folge nach Kalkutta eingeladen, wo sie vor Frauen, auf die Anschläge mit Kochbenzin verübt worden sind, lesen soll. Die Schilderung der Reise und ihrer Ankunft am Flughafen Dum Dum gehört mit zum Lustigsten, was ich je übers Reisen gelesen habe.

"Nach etwa zwei Stunden Fahrt im Schritttempo zwischen ununterbrochen, aber völlig sinnlos hupenden Autos, vorbei an Kühen und Schafen, windschiefen Hütten, diverse Dinge über dem Kopf balancierenden Fussgängern und auf dem Trottoir sitzenden oder gar liegenden Frauen, Männern, Kindern, näherten wir uns wohl der eigentlichen Stadt, denn am Horizont, hinter einem breiten Gürtel von Leuchtschriften, Werbeplakaten, Modegeschäften, Supermärkten, Garküchen, Bretterbuden und Warenstapeln links und rechts der Strasse, ragten hohe, steinerne Gebäude aus dem Dunst ...".

Drehtür erzählt ganz unterschiedliche Geschichten, die unter anderem in Nicaragua, Tunesien, New York und München spielen. Was sie verbindet sind die verschiedenen Arten und Facetten des Helfens mit all seinen Risiken – sei es im Dienste von internationalen Hilfsorganisationen oder beim Füttern von  Katzen am Urlaubsort.

Das Bedürfnis  zu helfen ist womöglich angeboren, wirklich helfen zu können aber eben nichts für "gutwillige, aber realitätsfremde Dilettanten", die Gefahr laufen, ob des schrillen Geschreis traumatisierter Kleinkinder oder des Wahnsinns in den Gesichtern von Gefolterten, selber traumatisiert oder wahnsinnig zu werden.

Drehtür ist weit mehr als gute Literatur, es ist ein überaus cleveres und hilfreiches Buch.

Katja Lange-Müller
Drehtür
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016

Mittwoch, 7. September 2016

Chatter - another kind of drug abuse

The Greeks are all for chatter, and political chatter is the most seductive means of wasting time. Few Greeks read anything but newspapers, though literary coteries abound, usually revolving round the poets. If you ask why there aren't more novelists you are told the political situation makes it dangerous for Greeks to write novels. As so many Greeks have been prepared to die for their political beliefs, I can only feel that they are not prepared to forgo their chatter for the long and arduous stretches of seclusion which the writing of a novel demands. The chatter is amusing, stimulating, till you begin to see it as another kind of drug abuse. Then you long to escape from its clutches.

Patrick White: Flaws in the Glass. A Self-Portrait