Mittwoch, 24. Juni 2015

Das Asperger-Syndrom

Die am 11. Mai 1960 in Thun geborene Katrin träumte als junges Mädchen davon, "einen Mann zu heiraten, der mein Romeo, mein Beschützer und mein bester Freund ist. Meine Eltern hatten mir vorgelebt, dass eine Ehe beglückend ist und man heiratet, um das Leben gemeinsam zu meistern und zu geniessen. Doch als ich meinem Traummann nach Australien folgte, musste ich lernen, dass das nicht selbstverständlich ist."

Katrins Mann Gavin funktioniert nicht wie andere Menschen. "Seine Laune wechselt in Sekundenschnelle, während sein Gesichtsausdruck immer gleich bleibt. Er scheint verschiedene Persönlichkeiten zu besitzen." Er ist perfektionistisch, befolgt strikt genaue Verhaltensregeln und erwartet das auch von anderen, er hat immer Recht, entschuldigt sich nie, regt sich enorm über Kleinigkeiten auf und hat ein erstaunliches Gedächtnis für Fakten und Zahlen. Er lebt in seiner eigenen Welt, abgespalten von seiner Umwelt.

 Kennengelernt haben sich die beiden, als die engagierte Primarlehrerin Katrin 1987 für drei Monate Australien erkundet. Gegen Ende ihrer Reise will sie mit dem Bus nach Byron Bay, hört dann aber von einem Kanadier, dass ein junger Australier namens Gavin am nächsten Tag mit dem Auto dorthin fahre. Ob er sie mitnehme, fragt sie ihn. Er guckt gerade fern, sagt okay, wendet jedoch seinen Blick nicht vom Bildschirm. "Sein Verhalten schien mir damals nicht ungewöhnlich. Das Einzige, was mir auffiel, war, dass sich seine Stimmung nie änderte. Er schien weder extrem fröhlich noch traurig, sondern einfach immer cool und nett."

Als Gavin sie kurz darauf in der Schweiz besucht, verhält er sich zwar schon ab und zu etwas eigenartig (Von der Schokolade, die sie als Geschenk zu einer Einladung mitnehmen, isst er bereits im Zug und überreicht dann die angebrochene Schachtel den Gastgebern), doch sie folgt ihrem Herzen und bereits fünf Monate später heiraten die beiden.

Gavins Benehmen verunsichert und verstört Katrin zunehmend. Ihr Mann erweist sich als extrem knauserig, scheint gefühlslos, ist besserwisserisch und detailfixiert, bekundet ausserordentlich Mühe, Entscheidungen zu treffen und lebt nach rigiden Regeln, die ihm Halt geben. "Er war nun für unser Wohl verantwortlich, daher sah er unsere Flitterwochen als eine Art Rekrutenschule, um mir beizubringen, wie man das Leben richtig anpackt." Katrins Selbstwertgefühl nimmt rapide ab, am liebsten würde sie in die Schweiz zurückkehren. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

"Hie und da versuchte ich, eine romantische Atmosphäre zu schaffen, aber es gelang mir nur selten. Gavins Liebe zum Detail, sein Bedürfnis, andere auf ihre Fehler aufmerksam zu machen, seine Empfindlichkeit in Bezug auf Geschmack und Berührung, seine Überzeugung, dass man schonungslos alles sagen durfte, solange es der Wahrheit entsprach, und seine Schwierigkeit die Mimik anderer Menschen zu deuten, machten Romantik zu einem fast aussichtslosen Projekt."

Doch es gab auch Momente, wo sich die beiden wieder nahe waren. Und dann kamen ein Sohn und eine Tochter zur Welt, die für neue Herausforderungen sorgten. Gavins Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein sowie seine extremen Stimmungswechsel hielten an.

Katrin und Gavin scheinen in gänzlich unvereinbaren Welten zu leben. Und es dauert unfassbar lange, bis Katrin endlich auf die Idee kommt, dass es möglicherweise eine medizinische Erklärung für Gavins sonderbares Verhalten geben könnte. Tony Attwoods Buch "Asperger-Syndrom" öffnet ihr schliesslich die Augen.

Nach und nach beginnt sie zu verstehen, dass sie Gavin nicht ändern kann, sich selber aber schon. "Während ich alles Mögliche über das Asperger-Syndrom gelernt hatte, um unsere Beziehung zu verbessern, war mir entfallen, dass ich mich auch intensiv um meine Wunden kümmern musste." Sie gibt auf, Gavin ändern zu wollen. Stattdessen konzentriert sie sich auf ihr eigenes Wohlergehen und darauf, sich an den vielfältigen Fähigkeiten ihres Mannes zu freuen.

Katrin Bentley
Allein zu zweit
Mein Mann, das Asperger-Syndrom und ich
Wörterseh Verlag, Gockhausen 2015

Mittwoch, 17. Juni 2015

Wie Geschichten Leben retten können

In einer Radiosendung über Blues sprach der Musiker Charlie Musselwhite davon, wie er aufhörte, sich zu Tode zu saufen. Im Jahre 1987 fiel in Midland, Texas, die zweijährige Jessica McClure in einen Brunnen, wo sie Kinderlieder sang. Rund um die Uhr berichteten die Medien von der Rettungsaktion. Musselwhite, im Auto auf dem Weg zur Arbeit, hörte davon im Radio. Und er dachte sich: "Mensch, meine Probleme sind vielleicht klein gegen ihre. Warum kann ich denn nicht halb so tapfer sein wie sie? Ich dachte: Das ist es. Bis sie rauskommt, werde ich mir keinen Drink mehr genehmigen. Es war so eine Art Gebet für sie von mir. Und als sie es schafften, sie da rauszuholen, da hatte ich es auch geschafft."

Rebecca Solnit: Aus der nahe Ferne

Mittwoch, 10. Juni 2015

Mit einem Schlag

Jill Taylor hat einen Bruder, achtzehn Monate älter und als Kind die Realität ganz anders wahrnehmend als sie. Er leidet unter Schizophrenie. Sie wird Hirnforscherin: "Ich wollte verstehen, warum sich meine Träume mit der Realität in Verbindung bringen liessen und warum das bei meinem Bruder nicht der Fall war. Was lief in seinem Gehirn so grundlegend anders ab?"

Sie ist Mitte dreissig, bezeichnet sich als "beruflich als auch privat erfolgreich", als sie eines Morgens erwacht und "merkte, dass mein Gehirn nicht mehr richtig funktionierte. Ich hatte einen Schlaganfall erlitten. Innerhalb von vier Stunden verlor ich die Fähigkeit, äussere Reize mit meinen Sinnen zu verarbeiten. Ich konnte nicht mehr gehen, reden, lesen, schreiben oder mich an irgendwelche Aspekte meines Lebens erinnern."

Um zu verstehen, was bei einem Schlaganfall passiert, ist es hilfreich, sich mit ein paar medizinisch-wissenschaftlichen Zusammenhängen vertraut zu machen.

Der genetische Code des Menschen ist für alle Lebensformen auf unserem Planeten derselbe und das meint, dass wir im Hinblick auf unsere DNA mit Vögeln, Reptilien und Pflanzen verwandt sind. Von anderen Säugetieren unterscheiden wir uns in Bezug auf das Grosshirn, das beim Menschen zweimal so dick ist "und man nimmt an, dass es auch eine zweifache Funktion hat."

Die linke und die rechte Hirnhälfte verhalten sich unterschiedlich. "Für die rechte Hirnhälfte existiert nur der gegenwärtige Augenblick", sie ist also der Sitz des Gefühls; die linke Hirnhälfte wird hingegen mit der Ratio, dem Denken und der Sprache assoziiert. Man muss sich vor Augen halten, dass dies Verallgemeinerungen sind, die strengen wissenschaftlichen Standards nicht genügen, doch im Kern sind diese Zuordnungen richtig.

"Obwohl jede der beiden Hirnhälften Informationen auf einzigartige Weise für sich verarbeitet, arbeiten sie doch auch eng zusammen." So recht eigentlich sind ihre Wahrnehmungen der Welt so nahtlos miteinander verknüpft, dass wir gar nicht bewusst unterscheiden können, welche Hirnhälfte gerade aktiv ist.

Jill Taylors Schlaganfall wurde durch eine schwere Blutung in der linken Hirnhälfte ausgelöst. Zuerst nahm sie einen scharfen Schmerz wahr, der direkt hinter dem linken Auge das Gehirn durchbohrte. In der Folge realisierte sie, dass ihr Gleichgewichtsgefühl stark beeinträchtigt war. Auch gelang es ihr nicht mehr, Geräusche von aussen zu verarbeiten. Panik verspürte sie nicht, doch da war der Wunsch sich hinzulegen, der jedoch von einer Stimme in ihrem Inneren überlagert wurde, die klar und deutlich sagte: "Wenn du dich jetzt hinlegst, stehst du nie wieder auf."

Obwohl sich ihre Fähigkeit zu denken auflöste, war sie noch fähig zum Telefon zu greifen. "'Hier ist Jill. Ich brauche Hilfe!' Nun, zumindest versuchte ich das zu sagen, aber was aus meinem Mund drang, war eher ein Grunzen und Stöhnen. Zum Glück erkannte Steve jedoch meine Stimme, und ihm war sofort klar, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte."

Im Spital realisierte sie, dass sie sich an nichts aus ihrem früheren Leben erinnern konnte. "Ich trauerte zwar sehr um den Tod des Bewusstseins meiner linken Hirnhälfte und um die Frau, die ich einmal gewesen war, empfand aber zugleich auch grosse Erleichterung ... Ich konnte nur wahrnehmen, was hier und jetzt war, und es war wunderschön."

Sie hatte das Gefühl, dass ihr Geist mit allem im Fluss und eins mit dem Universum war; ein tiefer innerer Frieden durchdrang sie. Und sie nahm sensibel wahr, wie gut ihr einige Besucher und wie schlecht ihr andere taten. "Auf die Menschen, die mir Energie gaben, indem sie mich sanft berührten, Blickkontakt hielten und ruhig mit mir sprachen, liess ich mich ein ... Vor denjenigen jedoch, die meine Energien anzapften, schützte ich mich, indem ich sie ignorierte."

Jill Taylor musste das Leben neu lernen. Das Wichtigste dabei war die Bereitschaft, es zu versuchen. Dazu brauchte sie viel Geduld und Durchhaltewillen. "Manchmal musste ich tausend Mal versuchen, versuchen, versuchen, ohne dass sich etwas tat, aber wenn ich es nicht versuchte würde es nie klappen."

Doch sie will nicht mehr die Jill werden, die sie vorher gewesen ist. "Plötzlich hatte ich viel mehr dazu zu sagen, wie ich mich fühlte, und ich hatte nicht vor, die alten emotionalen Schaltkreise, die viel schmerzlicher gewesen waren, wieder in Gang zu setzen."

Der Schlaganfall hat Jills Bewusstsein geschärft, hat sie aufmerksamer werden lassen. Und sie gelehrt, dass Gedanken gepflegt werden können. "Habe ich erst einmal die Verantwortung für die Pflege meiner Gedanken übernommen, dann hege ich die Kreisläufe, die wachsen sollen, und unterbreche diejenigen Schaltkreise, die ich nicht in meinem Leben haben möchte."

Dr. Jill B. Taylor
Mit einem Schlag
Wie eine Hirnforscherin durch
ihren Schlaganfall neue Dimensionen
des Bewusstseins entdeckt
Knaur Menssana, München 2010

Mittwoch, 3. Juni 2015

Selbststeuerung

Ob mich ein Buch anspricht, entscheidet sich fast immer auf den ersten Seiten. Das war bei Joachim Bauers "Selbststeuerung" nicht anders. Sofort positiv davon gepackt wurde ich bereits vom allerersten Satz. "Mit Selbststeuerung lässt sich im Leben vieles, ohne sie nichts erreichen." Das setzt natürlich ein Selbst voraus. Dieses ist nicht von Anfang an da, sondern wird entwickelt und "entsteht erst dann, wenn wir etwas Abstand zu unseren Emotionen, zu den Objekten und den Reizen der uns umgebenden Welt gewinnen, wenn wir innehalten und darüber nachdenken können, was wir wirklich wollen,"

Mir ist dieser Ansatz sympathisch, auch gehe ich mit dem Autor grundsätzlich darin einig, dass wir einen freien Willen haben und dieser sich unter anderem auf unsere Gesundheit auswirkt. Doch seinen Glauben an die Wissenschaft (und was sie über unser Gehirn sagt) vermag ich nicht zu teilen, nicht zuletzt, weil wir verblüffend wenig über das Gehirn (und dort wäre dieser freie Wille ja wohl zu verorten) wissen. Für mich ist die Frage nach dem freien Willen eine Glaubensfrage. 

Es ist nicht ohne Ironie: Dass ich mich dafür entscheiden kann, ob ich an den freien Willen glauben will, setzt ja so recht eigentlich Willensfreiheit voraus. Jedenfalls gemäss der gängigen Ursache/Wirkung-Logik. Und so sinnvoll und hilfreich ich diese oft finde, im Bereich der Seele beziehungsweise des menschlichen Verhaltens scheint sie mir begrenzt tauglich. Wenig überraschend fand ich denn auch das Kapitel "Haben Gewohnheitsmenschen und Suchtgefährdete keinen freien Willen?" das weitaus unergiebigste.

Sich nicht für den freien Willen zu entscheiden, hätte weitreichende soziale Konsequenzen. So würde etwa unser ganzes Rechtssystem zusammenbrechen, weil niemand mehr für sein Verhalten verantwortlich gemacht werden könnte  wir würden zu einem Volk von Opfern werden, die von Sozialarbeitern und Therapeuten betreut werden müssten. Diese Tendenz gibt es bereits, dagegen schreibt Professor Bauer an und das ist begrüssenswert.

"Das Trieb- oder Basissystem einerseits und der top-down kontrollierende Präfrontale Cortex andererseits: Beide im Gehirn eines jeden Menschen sitzenden Fundamentalsysteme sind eng miteinander verbunden. Sie sollten nicht gegen, sondern miteinander arbeiten." Das ist im Grunde die Kernaussage des Buches, die an ganz unterschiedlichen Beispielen erläutert wird. Der Präfrontale Cortex ist bei der Geburt eines Kindes ein weitgehend unbeschriebenes Blatt   und damit formbar. Anregungen dafür, wie man ihn lebensbejahend formen kann, liefert dieses Buch.

Professor Bauers Plädoyer für Selbststeuerung ist jedoch auch ein (wohl ungewollter) Appell, sich dem herrschenden System anzupassen. "Kinder müssen im Rahmen der Erziehung – liebevoll, erklärend, aber auch konsequent – zur Selbstkontrolle angehalten werden, also lernen, zu warten, zu teilen und ihre Impulse zu kontrollieren." Wer diese Selbstkontrolle nicht lernt, so zeigen Studien, wird später eher finanzielle Probleme haben, häufiger drogenabhängig und straffälliger werden; wer sie hingegen lernt, wird bessere Schulnoten nach Hause bringen, stressresistenter sein und vernunftgesteuerter handeln. Zugespitzt könnte man formulieren: was der derzeit etablierten Gesellschaft nützt, nützt auch dem Einzelnen.

Der Autor setzt den Akzent anders. Er argumentiert für ein Leben gegen den Strom. Mit einleuchtenden Argumenten (die aber gleichzeitig, wie eben dargelegt, auch noch anders gelesen werden können). Das für mich überzeugendste behauptet, dass "die Fähigkeit zur gezielt ausgeübten Selbstbeschränkung, zur bewussten Hemmung kurzfristiger Impulse und Gelüste ein erhöhtes Mass an Freiheitsräumen und Selbststeuerungsmöglichkeiten zur Folge" hat.

Professor Bauer weist auf Studien wie etwa die der amerikanischen Psychologin Celeste Kidd hin, die eindrücklich den Einfluss demonstriert, den die Verlässlichkeit Erwachsener auf die Entwicklung der kindlichen Selbstkontrolle hat. Das weiss zwar auch der gesunde Menschenverstand, doch der ist heutzutage wenig verbreitet.

"Selbststeuerung" ist ein notwendiges Buch, das für Selbstverständlichkeiten wirbt, die heutzutage bedauerlicherweise alles andere als selbstverständlich sind: Eigenverantwortung, eine gesunde Balance zwischen Körper und Geist sowie das Wissen darum, dass der Mensch dem Menschen die häufig beste Medizin ist. 

Joachim Bauer
Selbststeuerung
Die Wiederentdeckung des freien Willens
Karl Blessing Verlag, München 2015