Mittwoch, 3. Juni 2015

Selbststeuerung

Ob mich ein Buch anspricht, entscheidet sich fast immer auf den ersten Seiten. Das war bei Joachim Bauers "Selbststeuerung" nicht anders. Sofort positiv davon gepackt wurde ich bereits vom allerersten Satz. "Mit Selbststeuerung lässt sich im Leben vieles, ohne sie nichts erreichen." Das setzt natürlich ein Selbst voraus. Dieses ist nicht von Anfang an da, sondern wird entwickelt und "entsteht erst dann, wenn wir etwas Abstand zu unseren Emotionen, zu den Objekten und den Reizen der uns umgebenden Welt gewinnen, wenn wir innehalten und darüber nachdenken können, was wir wirklich wollen,"

Mir ist dieser Ansatz sympathisch, auch gehe ich mit dem Autor grundsätzlich darin einig, dass wir einen freien Willen haben und dieser sich unter anderem auf unsere Gesundheit auswirkt. Doch seinen Glauben an die Wissenschaft (und was sie über unser Gehirn sagt) vermag ich nicht zu teilen, nicht zuletzt, weil wir verblüffend wenig über das Gehirn (und dort wäre dieser freie Wille ja wohl zu verorten) wissen. Für mich ist die Frage nach dem freien Willen eine Glaubensfrage. 

Es ist nicht ohne Ironie: Dass ich mich dafür entscheiden kann, ob ich an den freien Willen glauben will, setzt ja so recht eigentlich Willensfreiheit voraus. Jedenfalls gemäss der gängigen Ursache/Wirkung-Logik. Und so sinnvoll und hilfreich ich diese oft finde, im Bereich der Seele beziehungsweise des menschlichen Verhaltens scheint sie mir begrenzt tauglich. Wenig überraschend fand ich denn auch das Kapitel "Haben Gewohnheitsmenschen und Suchtgefährdete keinen freien Willen?" das weitaus unergiebigste.

Sich nicht für den freien Willen zu entscheiden, hätte weitreichende soziale Konsequenzen. So würde etwa unser ganzes Rechtssystem zusammenbrechen, weil niemand mehr für sein Verhalten verantwortlich gemacht werden könnte  wir würden zu einem Volk von Opfern werden, die von Sozialarbeitern und Therapeuten betreut werden müssten. Diese Tendenz gibt es bereits, dagegen schreibt Professor Bauer an und das ist begrüssenswert.

"Das Trieb- oder Basissystem einerseits und der top-down kontrollierende Präfrontale Cortex andererseits: Beide im Gehirn eines jeden Menschen sitzenden Fundamentalsysteme sind eng miteinander verbunden. Sie sollten nicht gegen, sondern miteinander arbeiten." Das ist im Grunde die Kernaussage des Buches, die an ganz unterschiedlichen Beispielen erläutert wird. Der Präfrontale Cortex ist bei der Geburt eines Kindes ein weitgehend unbeschriebenes Blatt   und damit formbar. Anregungen dafür, wie man ihn lebensbejahend formen kann, liefert dieses Buch.

Professor Bauers Plädoyer für Selbststeuerung ist jedoch auch ein (wohl ungewollter) Appell, sich dem herrschenden System anzupassen. "Kinder müssen im Rahmen der Erziehung – liebevoll, erklärend, aber auch konsequent – zur Selbstkontrolle angehalten werden, also lernen, zu warten, zu teilen und ihre Impulse zu kontrollieren." Wer diese Selbstkontrolle nicht lernt, so zeigen Studien, wird später eher finanzielle Probleme haben, häufiger drogenabhängig und straffälliger werden; wer sie hingegen lernt, wird bessere Schulnoten nach Hause bringen, stressresistenter sein und vernunftgesteuerter handeln. Zugespitzt könnte man formulieren: was der derzeit etablierten Gesellschaft nützt, nützt auch dem Einzelnen.

Der Autor setzt den Akzent anders. Er argumentiert für ein Leben gegen den Strom. Mit einleuchtenden Argumenten (die aber gleichzeitig, wie eben dargelegt, auch noch anders gelesen werden können). Das für mich überzeugendste behauptet, dass "die Fähigkeit zur gezielt ausgeübten Selbstbeschränkung, zur bewussten Hemmung kurzfristiger Impulse und Gelüste ein erhöhtes Mass an Freiheitsräumen und Selbststeuerungsmöglichkeiten zur Folge" hat.

Professor Bauer weist auf Studien wie etwa die der amerikanischen Psychologin Celeste Kidd hin, die eindrücklich den Einfluss demonstriert, den die Verlässlichkeit Erwachsener auf die Entwicklung der kindlichen Selbstkontrolle hat. Das weiss zwar auch der gesunde Menschenverstand, doch der ist heutzutage wenig verbreitet.

"Selbststeuerung" ist ein notwendiges Buch, das für Selbstverständlichkeiten wirbt, die heutzutage bedauerlicherweise alles andere als selbstverständlich sind: Eigenverantwortung, eine gesunde Balance zwischen Körper und Geist sowie das Wissen darum, dass der Mensch dem Menschen die häufig beste Medizin ist. 

Joachim Bauer
Selbststeuerung
Die Wiederentdeckung des freien Willens
Karl Blessing Verlag, München 2015

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