Zur Erinnerung an
Olivier Ameisen
25. Juni 1953 - 18. Juli 2013
Olivier
Ameisen ist Alkoholiker und hat so ziemlich alles versucht, was an
gängigen Angeboten zur Suchtbekämpfung vorhanden ist -
Psychopharmaka, Rational Recovery, Meetings der Anonymen Alkoholiker
(AA), Aufenthalte in Entzugskliniken - zudem betrieb er Sport und
Yoga, doch nichts davon hielt ihn für längere Zeit vom Trinken ab.
Dies lag nicht daran, dass er zuwenig motiviert war. So schreibt
er:
"Das Konzept von Rational Recovery (RR) sprach mich
sehr an. Die zentralen Voraussetzungen sind, dass Alkoholismus keine
biologische Erkrankung ist, sondern ein Verhaltensproblem, das der
Betroffenen mit seinen eigenen mentalen Ressourcen überwinden kann.
Nach meiner Erfahrung erwiesen sich jedoch die "innere Macht",
die bei RR eine so grosse Rolle spielt, und die "grössere
Macht" (das hat der Autor falsch verstanden oder es ist ein
Übersetzungsfehler, die AA-Literatur spricht von einer "höheren",
nicht von einer "grösseren" Macht) der AA als ohnmächtig
angesichts der überwältigenden Macht meines von Angst getriebenen
Verlangens nach Alkohol. Entweder fehlte es mir entschieden an
Willenskraft und/oder Spiritualität, oder meine Form des
Alkoholismus hatte eine fundamentale biologische Komponente, die man
mit Medikamenten würde angehen müssen."
Olivier Ameisen
hat, wie viele Alkoholiker, sein Leben lang an
Unzulänglichkeitsgefühlen gelitten und war sich "vorgekommen
wie ein Hochstapler, der demnächst enttarnt werden würde. Schon
lange bevor ich mit dem Trinken angefangen hatte, hatte ich Therapien
gemacht. Ehrlich gesagt, hatten sie bei meinen Ängsten nicht viel
geholfen." Sprach er mit Medizinern oder mit AAs über seine
Ängste, meinten sie meist, diese würden verschwinden, wenn er mit
dem Saufen (die deutsche Übersetzung spricht dauernd vom "Trinken",
doch was Ameisen tat, war ganz klar "saufen") aufhöre.
Doch dem war nicht so. "Ich litt an Ängsten, lange bevor ich
Alkoholiker wurde. Aber alle, die mich wegen meiner Alkoholsucht
behandelten, ignorierten diesen Punkt, wie oft ich ihn auch
wiederholte."
Das Saufen wurde, trotz vieler dramatischer
Versuche gegenzusteuern, schlimmer; die Abstürze wurden dramatischer
- er brach sich Rippen und Handgelenk (für einen begabten Pianisten
wie Ameisen eine ganz besondere Katastrophe) - , verfügte aber immer
über genügend privilegierte Verbindungen, um jeweils wieder
glücklich aus dem Schlamassel herauszukommen. Dabei gehört es zu
den Stärken dieses Buches, dass es ungeschminkt benennt, was es zu
benennen gilt: "Die Wahrheit ist, dass kein Abhängiger/keine
Abhängige so viel Zeit zum Entzug bekommt, wie er oder sie braucht,
sondern nur so viel, wie er oder sie sich leisten kann," Und:
"Da es keine bewährte Therapie gibt, liegt der Hauptnutzen
einer Entzugsklinik darin, dass sie dem Süchtigen die dringend
nötige Pause vom Alkohol oder einer anderen Substanz oder
Verhaltensweise bringt." Sicher, das auch, doch den wirklichen
Hauptnutzen hat der Klinikbetreiber, für den der Entzug oft einfach
nur ein Geschäft ist. Wer nachliest, wie Ameisen aus der Klinik
Clear Spring ("das Ritz unter den Entzugskliniken")
verwiesen wird, weil seine Versicherung die 500 US-Dollar pro Tag
nicht mehr zahlte, hat diesbezüglich keine Illusionen mehr.
Es
ist ein Wunder, dass Ameisen aus seiner Abwärtsspirale schliesslich
herausfindet. Dass er es schafft, hat mit ganz verschiedenen Faktoren
zu tun, doch entscheidend damit, dass er durch einen Artikel in der
New York Times auf ein Medikament namens Baclofen stiess, welches das
Craving unterdrückt. "Verlangen oder Craving ist ein schwer
fassbarer Begriff, weil er körperliche, emotionale und mentale
Symptome umfasst, die in Wellen über Stunden und Tage hinweg
auftreten. Für mich war es eine brutale Tatsache des Lebens. Im
schlimmsten Fall, das haben Forschungen gezeigt, ist das Verlangen
nach einem Suchtmittel wie der Hunger eines verhungernden Menschen:
Die gleichen Hormone werden freigesetzt und die gleichen
Gehirnregionen aktiviert. Das Nationale Institut für
Alkoholmissbrauch und Alkoholismus (National Institute on Alcohol
Abuse and Alcoholism, NIAAA) hat festgestellt, dass das Verlangen
nach Alkohol sogar schlimmer sein kann als Hunger oder Durst und
dass, wenn der Alkoholismus den Betroffenen im Griff hat, das Gehirn
Alkohol als lebensnotwendig ansieht."
Baclofen, ein
Mittel, das gegen Muskelkrämpfe verschrieben wurde, soll das Craving
unterdrücken können? Ameisen hat es im Selbstversuch getestet, und
ja, es hat gewirkt. Ein paar wenige Ärzte haben es bisher an
Patienten ausprobiert, und ja, es hat gewirkt. Nein, nicht bei allen.
Denn auch wenn man, wie Ameisen das tut, Abhängigkeit als eine
biologische Krankheit versteht, muss ein Patient zuallererst immer
noch ausreichend mit dem Saufen aufhören wollen. Zudem:
12-Schritte-Programme und andere Verhaltenstherapien wird es nach wie
vor brauchen, denn diese sind vor allem nach 6 bis 18 Monaten
Abstinenz am wirksamsten. (Wie Mark Twain bekanntlich sagte: Mit
Rauchen aufhören, sei überhaupt kein Problem, er habe es schon
Hunderte von Malen gemacht.).
Fazit: eine in vielerlei
Hinsicht empfehlenswerte Lektüre, nicht zuletzt, wegen Sätzen wie
diesen: "Mir war seit Langem klar, dass Alkoholiker und andere
Abhängige nicht mit dem üblichen Mass an Mitgefühl und Fürsorge
rechnen können, wenn sie medizinische Hilfe brauchen." Und:
"Die Wahrheit lautet, dass meine Mutter und meine Geschwister
nichts hätten tun können, um mich von meinem schweren Alkoholismus
zu heilen, Was ich von ihnen brauchte und was die Angehörigen aller
Suchtkranken nur so schwer in einer Weise geben können, dass der
Suchtkranke es annehmen kann, waren Liebe und Mitgefühl."
Dr.
Olivier Ameisen
Das Ende meiner Sucht
Verlag Antje Kunstmann,
München 2009
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