Stephen Grosz berichtet in diesem Buch, dessen englischer Titel (The Examined Life. How we lose and find ourselves) mich neugieriger macht als der deutsche, von seiner Arbeit als Psychoanalytiker. Es sei ein Buch über Veränderung, schreibt er im Vorwort, und da Veränderung und Verlust eng zusammenhängen, durchziehe Verlust dieses Buch. Weshalb ihm auch ein inspirierendes Zitat von Andre Dubus II vorangestellt ist: "Wir gewinnen, wir verlieren, und wir müssen uns um Dankbarkeit bemühen, aber auch darum, von ganzen Herzen anzunehmen, was nach dem Verlust noch bleibt vom Leben."
Ich bin mir gar nicht sicher, ob, wie der Autor behauptet, Verlust wirklich das Hauptthema dieses Buches ist, mein Eindruck war das jedenfalls nicht, denn dazu sind die Geschichten viel zu unterschiedlich.
Ich bin mir gar nicht sicher, ob, wie der Autor behauptet, Verlust wirklich das Hauptthema dieses Buches ist, mein Eindruck war das jedenfalls nicht, denn dazu sind die Geschichten viel zu unterschiedlich.
Die erste Geschichte handelt von Peter, einem siebenundzwanzigjährigen Statiker, der versucht hatte, sich umzubringen. Peter schwankte zwischen zwei Extremen, Mitmachen oder radikaler Bruch, ein Muster, dem er auch in seiner Analyse treu blieb: er brach die Analyse ab. Zwei Monate später erhält der Analytiker ein Schreiben von Peters Verlobter: Peter habe sich umgebracht. Weitere sechs Monate später findet Grosz auf seinem Anrufbeantworter eine Nachricht von Peter, er sei nicht tot, ob er vorbei kommen könne. Die Erklärung? Das Schreiben seiner Verlobten hatte er selber verfasst. Er hatte den Drang zu schockieren, so der Analytiker.
"Die Frau, die nicht lieben wollte" ist nicht nur eine Sammlung von ganz verschiedenartigen Fallgeschichten, der Leser (und die Leserin) erfahren auch, wie der Analytiker Grosz das Verhalten der Beteiligten interpretiert. Joshua etwa, der nach der Geburt seines Sohnes zu einer Prostituierten geht, doch mit ihr keinen Sex hat. Er wolle sie davon überzeugen, mit der Prostitution aufzuhören, wolle ihr einen Platz in der Welt verschaffen, sagt er. Er würde wie eine Mutter klingen, die über ihr Baby rede, meint dazu der Analytiker. Und: "Joshua war einsam. Mehr noch: Er war eifersüchtig auf die Nähe, die Frau und Sohn miteinander verband. Da er keine Möglichkeit sah, daran teilzunehmen, konnte Joshua auch seinen Platz als Vater nicht finden, eine Unfähigkeit, die für ihn war, als ob ihn seine Frau verliesse. Was er fröhlich eine Dummheit genannt hatte, war in Wirklichkeit also ein Racheakt."
Ein weiterer Patient, Philip, war ein notorischer Lügner, der für die Leute, die er belog, kein Mitgefühl aufbringen konnte. Dazu Grosz: "Philips Lügen waren kein Versuch, sich Vertrauen zu erschwindeln - auch wenn sie manchmal dazu führten. Lügen waren seine Art, Nähe zu bewahren, wie er sie kannte, seine Art, an der Mutter festzuhalten." Natürlich klingt diese Schlussfolgerung ohne die dazugehörige Geschichte ziemlich absurd. Neugierig geworden? Also dann: die dazugehörige Geschichte ("Über Geheimnisse") lesen.
Mich haben Grosz' Interpretationen und Folgerungen nicht immer überzeugt. In der Phantasie einer jungen, unverheirateten Frau, die sich vorstellt, beim Umdrehen des Wohnungsschlüssels würde die ganze Wohnung explodieren, sieht er etwas Gesundes am Werk: "Einen Moment lang machte ihr diese Phantasie Angst, doch die Angst bewahrte sie letztlich vor dem Gefühl der Einsamkeit." Im Falle einer anderen jungen Frau, die sich nicht entscheiden konnte, führt er das auf verlorene Gefühle aus der Kindheit zurück.
Die Geschichten in diesem Band sind nicht gerade alltäglich (da schildert etwa einer ein Haus in Frankreich, das ihm in allen Lebensumständen Sicherheit gewähre und dann erfährt man, dass es das Haus gar nicht gibt) und sie sind sehr kurz, er wollte sich auf das Wesentliche konzentrieren, meinte der Autor in einem Interview. Bei einer der Geschichten lässt sich das Wesentliche sogar mit dem Titel zusammenfassen: "Je seriöser die Fassade, desto mehr ist zu verbergen."
Stephen Grosz
Die Frau, die nicht lieben wollte
und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
S. Fischer, Frankfurt am Main 2013
"Die Frau, die nicht lieben wollte" ist nicht nur eine Sammlung von ganz verschiedenartigen Fallgeschichten, der Leser (und die Leserin) erfahren auch, wie der Analytiker Grosz das Verhalten der Beteiligten interpretiert. Joshua etwa, der nach der Geburt seines Sohnes zu einer Prostituierten geht, doch mit ihr keinen Sex hat. Er wolle sie davon überzeugen, mit der Prostitution aufzuhören, wolle ihr einen Platz in der Welt verschaffen, sagt er. Er würde wie eine Mutter klingen, die über ihr Baby rede, meint dazu der Analytiker. Und: "Joshua war einsam. Mehr noch: Er war eifersüchtig auf die Nähe, die Frau und Sohn miteinander verband. Da er keine Möglichkeit sah, daran teilzunehmen, konnte Joshua auch seinen Platz als Vater nicht finden, eine Unfähigkeit, die für ihn war, als ob ihn seine Frau verliesse. Was er fröhlich eine Dummheit genannt hatte, war in Wirklichkeit also ein Racheakt."
Ein weiterer Patient, Philip, war ein notorischer Lügner, der für die Leute, die er belog, kein Mitgefühl aufbringen konnte. Dazu Grosz: "Philips Lügen waren kein Versuch, sich Vertrauen zu erschwindeln - auch wenn sie manchmal dazu führten. Lügen waren seine Art, Nähe zu bewahren, wie er sie kannte, seine Art, an der Mutter festzuhalten." Natürlich klingt diese Schlussfolgerung ohne die dazugehörige Geschichte ziemlich absurd. Neugierig geworden? Also dann: die dazugehörige Geschichte ("Über Geheimnisse") lesen.
Mich haben Grosz' Interpretationen und Folgerungen nicht immer überzeugt. In der Phantasie einer jungen, unverheirateten Frau, die sich vorstellt, beim Umdrehen des Wohnungsschlüssels würde die ganze Wohnung explodieren, sieht er etwas Gesundes am Werk: "Einen Moment lang machte ihr diese Phantasie Angst, doch die Angst bewahrte sie letztlich vor dem Gefühl der Einsamkeit." Im Falle einer anderen jungen Frau, die sich nicht entscheiden konnte, führt er das auf verlorene Gefühle aus der Kindheit zurück.
Die Geschichten in diesem Band sind nicht gerade alltäglich (da schildert etwa einer ein Haus in Frankreich, das ihm in allen Lebensumständen Sicherheit gewähre und dann erfährt man, dass es das Haus gar nicht gibt) und sie sind sehr kurz, er wollte sich auf das Wesentliche konzentrieren, meinte der Autor in einem Interview. Bei einer der Geschichten lässt sich das Wesentliche sogar mit dem Titel zusammenfassen: "Je seriöser die Fassade, desto mehr ist zu verbergen."
Stephen Grosz
Die Frau, die nicht lieben wollte
und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
S. Fischer, Frankfurt am Main 2013
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