Sicher ist aber, dass nicht Genetik und Konstitution allein, sondern vielfältige psychosoziale Lernprozesse zur Sucht führen.
Sicher erscheint mir überdies, dass Sucht-Strukturen – wenn sie sich in einer Person einmal verfestigt haben – nicht zu tilgen sind. Seit achtundzwanzig Jahren trinke ich nun keinen Alkohol mehr, aber dass ich trotzdem ein durch und durch süchtiger Mensch geblieben bin, ist mir bewusst. Sucht, das weiss ich heute aus eigener Erfahrung, ist eine Lebenshaltung. Mir ist inzwischen gleichgültig, ob sie angeboren oder angelernt ist. Auch ob ich diese spezielle Eigentümlichkeit als Krankheit, Defizit, Charakterfehler oder Schicksal definiere, macht letztlich keinen Unterschied. Entscheidend bleibt allein, dass ich sie als Teil meiner Identität wahrnehme und akzeptiere. Mit anderen Worten: ich leugne nicht meine immer in mir lauernde Neigung, alles, was ich betreibe, so masslos zu steigern, dass es am Ende zum Selbstzweck wird und mich abhängig macht. Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist nicht immer erbaulich. Doch nur so kann ich versuchen, mich gegen die Gefährdungen des Rückfalls oder der Suchtverlagerung zu wappnen. Überall gilt, was Erhard Eppler in der Politik gelernt hat: „Je perfekter die Deformation, desto geringer das Bewusstsein davon.“
Jürgen Leinemann
Höhenrausch
Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker.
Karl Blessing Verlag, München 2004
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