Mittwoch, 29. September 2010

Die Suchtfibel

Die Suchtfibel des psychologischen Suchttherapeuten und Geschäftsführers der Salus Kliniken in Friedrichsdorf im Taunus, Ralf Schneider, ist so recht eigentlich ein Muss für alle, die sich mit Suchtfragen auseinandersetzen. Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis stimmt einen, auch des hilfreichen Aufbaus wegen, hoffnungsfroh:

1. Von der Ahnungslosigkeit zur Nachdenklichkeit: Sich Grundwissen zu Suchtstoffen aneignen.
2. Von der Nachdenklichkeit zum Problembewusstsein: Verstehen, wie es zu schädlichem Konsum und Abhängigkeit kommt.
3. Von der Unentschiedenheit zur Lösung: Sich selbt die richtige Diagnose stellen und Schlussfolgerungen daraus ziehen.
4. Von Zaudern zum Handeln: Wie man sich aus Abhängigkeiten befreit.
5. Von der Änderung zur Stabilisierung: Die Freiheit sichern und Rückfällen vorbeugen.

Im Anhang findet man zudem die Rubriken:
Wo findet man Hilfe
Wie kann man weitere Informationen bekommen?
Buchtipps zum Thema "Abhängigkeit".
Ein Register schliesst den Band ab.

Auf ganz unterschiedliche Fragen findet man in diesem praktischen Buch Antworten. Was, zum Beispiel, versteht man unter Suchtpotential?
Wenn Drogen "bereits nach wenigen Malen ein starkes Verlangen nach Wiederholung hervorrufen und sehr viele der Erstkonsumenten später abhängig werden, spricht man von einem hohen Suchtpotential". Ein amerikanischer Forscher hat herausgefunden, dass von den Konsumenten von Nikotin 33%, Heroin 27%, Cannabis 10% und Alkohol 8% süchtig werden.
Wann gilt man als suchtkrank oder abhängig?
Einerseits, wenn man "auf den Konsum der Substanz angewiesen ist, um das Auftreten unangenehmer Zustände körperlicher oder seelischer Art zu verhindern", oder andererseits jemand, "der wiederholt so viel zu sich nimmt, dass er sich selbst und anderen Schaden zufügt, ohne daran etwas zu ändern."

Man muss nicht mit allen Antworten einverstanden sein, um die Auseinandersetzung mit der Suchtfibel zu empfehlen - was hiermit getan werden soll.
Ein Beispiel, das mich nicht überzeugt hat, soll gleichwohl erwähnt werden. So liest man etwa zur Frage "Was tun bei Depressionen und Angst?": "Für die Behandlung der verschiedenen Formen von Angst ist grundsätzlich die Psychotherapie zuständig. Insbesondere die Verhaltenstherapie zeitigt in diesem Bereich hervorragende Erfolge." Das wird zwar verhaltenstherapeutisch ausgebildete Psychotherapeuten freuen, doch seelisches Geschehen ist viel zu komplex als dass man eine Verhaltensänderung direkt auf eine Therapie zurückführen kann. Die Frage und Antwort an Radio Eriwan (auch im Buch zu finden), trifft es besser: "Wie viele Therapeuten braucht man, um eine Schraube in die Wand zu bekommen? Im Prinzip einen. - Aber die Schraube muss sich auch drehen lassen."

Ralf Schneider
Die Suchtfibel
Wie Abhängigkeit entsteht und wie man sich daraus befreit
14. überarbeitete und erweiterte Auflage
Schneider Verlag Hohengehren GmbH

Sonntag, 26. September 2010

sich das Leben nehmen

"Jürgen Heckel ist Alkoholiker, geht offen mit seinem Alkoholismus um und ist seit 25 Jahren trocken", lässt der Verlag einen wissen. Ein Mann also, dessen Gedanken und Einsichten zum Alkoholismus man zur Kenntnis nehmen sollte.

"sich das Leben nehmen. Alkoholismus aus der Sicht eines Alkoholikers", heisst sein im Münchner A1 Verlag erschienenes Buch. Zugegeben, ich fand (und finde) den Titel "sich das Leben nehmen" etwas eigenartig, positiv angesprochen hat er mich jedenfalls nicht, ich verstand ihn zuerst auch gar nicht. Als er mir dann erklärt wurde: "Du hast nur eine Chance, lieber Freund, nimm dir das Leben. Entweder nimm dir das Leben, indem du dich zu Tode säufst, oder nimm dir das Leben in all seiner Fülle. Eine andere Möglichkeit hast du nicht." leuchtete er mir zwar ein, doch so richtig packte er mich nicht, doch das ist ein Detail (und im Übrigen eins, das andere ganz anders bewerten mögen), denn Heckels Buch lohnt die Lektüre, weil man viel dabei lernt. Hier einige Beispiele:

Nahezu alle Menschen glauben, dass Abhängigkeiten ausschliesslich durch schwierige Lebenssituationen entstehen. Ich halte das für einen fundamentalen Irrtum. Abhängigkeiten können sich genauso gut durch freudige Ereignisse entwickeln. Ein grosser Lottogewinn wäre für einen Alkoholiker eine positive Katastrophe und genauso schwer zu verarbeiten wie ein riesiger Schuldenberg

Die allgemeine Gesundheitsregel, je früher eine Krankheit erkannt wird, desto grösser ist der Behandlungserfolg, kann auf die Alkoholkrankheit leider nicht übertragen werden. Solange der scheinbare Nutzen der Droge überwiegt, ist an Umkehr kaum zu denken.

Nicht der Tiefpunkt an sich ist gefährlich. Gefährlich ist es, wenn ich aus dem Tiefpunkt so wieder herauskomme, wie ich hineingekommen bin.

Das Wissen, welche Eigenschaften ich für den Veränderungsprozess benötige, hatte ich von meinen Therapeuten: Zähigkeit, Flexibilität, Geduld und Frustrationstoleranz.

... alle diese Diagnosen beruhen auf fragwürdigen Komplexitätsreduzierungen, die Ursache des übermässigen Trinkens wird stets im jeweiligen Fachgebiet des Experten entdeckt.

Die bedeutsamste Frage unseres Lebens können und dürfen wir Süchtige nicht an andere Instanzen delegieren.

Jürgen Heckel
sich das Leben nehmen
Alkoholismus aus der Sicht eines Alkoholikers
A1 Verlag, München 2010

Mittwoch, 22. September 2010

On legalising drugs

Convinced that the "only way out of Colombia's conflict is the legalisation of drugs", he says: "They're the main source of funding for leftwing guerrillas and rightwing paramilitaries. Both the military power of every illegal armed group, and the power of corruption, would disappear." Yet he holds out little hope. "There would have to be an international accord with the greatest consumer – the US – whose puritanical society will never allow it. Until it does, the producer countries will be drowned in these wars forever."

A life in writing: Juan Gabriel Vásquez by Maya Jaggi,
The Guardian, 26 June 2010

Sonntag, 19. September 2010

Von der Freiheit

Ein aussergewöhnlich nützliches Buch ist "Die Suchtfibel" von Ralf Schneider. Sie handelt davon, "wie Abhängigkeit entsteht und wie man sich daraus befreit", wie es im Untertitel treffend heisst. Hier zwei Zitate daraus, die ich besonders hilfreich finde:

Freiheit: der Zwang sich zu entscheiden.
(José Ortega y Gasset)

Niemand ist mehr Sklave,
als der sich für frei hält,
ohne es zu sein.
(J.W. Goethe: Die Wahlverwandtschaften)

Ich plane, immer mal wieder auf dieses nützliche Buch zurückzukommen. Es ist bereits in der 14. überarbeiten und erweiterten Auflage beim Schneider Verlag Hohengehren erschienen.

Mittwoch, 15. September 2010

An Ego Problem

Most alcoholism cases begin when the alcoholic takes his/her first drink. That usually occurs in the early teenage years so that the psychological effects of addiction are already in place when the "what am I going to do with my life?" choices are being made.

From the onset alcohol addiction causes ego inflation and people with bloated egos are more likely to select professions that offer the prospect of big ego payoffs. Thus the high percentage of alcoholic writers and actors.

James Graham, Author of "Vessels of Rage, Engines of Power: The Secret History of Alcoholism."

Sonntag, 12. September 2010

The War on Drugs

When you criminalise a drug for which there is a large market, it doesn't disappear. The trade is simply transferred from off-licences, pharmacists and doctors to armed criminal gangs.

In order to protect their patch and their supply routes, these gangs tool up – and kill anyone who gets in their way. You can see this any day on the streets of a poor part of London or Los Angeles, where teenage gangs stab or shoot each other for control of the 3,000 per cent profit margins on offer. Now imagine this process taking over an entire nation, to turn it into a massive production and supply route for the Western world's drug hunger.

If you knock out the leaders of a drug gang, you don't eradicate demand, or supply. You simply trigger a fresh war for control of the now-vacant patch. The violence creates more violence.

This is precisely what happened – to the letter – when the United States prohibited alcohol. A ban produced a vicious rash of criminal gangs to meet the popular demand, and they terrorised the population and bribed the police. Now 1,000 Mexican Al Capones are claiming their billions and waving their guns.

http://www.independent.co.uk/opinion/commentators/johann-hari/johann-hari-violence-breeds-violence-the-only-thing-drug-gangs-fear-is-legalisation-2062252.html

Mittwoch, 8. September 2010

Anerkennungssucht

Ich wusste es damals noch nicht, aber mehr und mehr war ich unter dem täglichen Rivalitäts- und Erfolgsdruck den politischen Karrieristen der Nixon-Administration ähnlich geworden, über die ich mit kaum verhohlenem Abscheu Woche für Woche schrieb. Ich teilte ihren unersättlichen Hunger nach Anerkennung und Bestätigung. Denn wie sie sah ich mich nicht nur auf der Erfolgsleiter, sondern zugleich auf der Flucht vor einer immer bedrängender werdenden Realität aus Selbstzweifeln, Furcht vor dem Scheitern und quälenden Fragen nach dem persönlichen Preis für die Karriere.

Jürgen Leinemann
Das Leben ist der Ernstfall
Hoffmann und Campe, Hamburg 2009

Sonntag, 5. September 2010

Distractions

A Small Death in Lisbon by Robert Wilson is an excellent thriller for its plot, for its story telling, and for its insights - here are some that will hopefully stay with me:

"It’s easily forgotten, Inspector, that history is not what you read in books. It’s a personal thing, and people are vengeful creatures, which is why history will never teach us anything."

“We are all mad, Inspector, for the simple reason that we don’t know why we exist and this …” he waved his hand at the tissue of existence before him, “this life is how we distract ourselves so that we don’t have to think about things too difficult for us to comprehend.”

"You think you know yourself until things start happening, until you lose the insulation of normality. I would have called myself “aware” before I lost my wife. People would look at me, Narciso for instance, and think there goes Zé Coelho, a man who knows himself. But I’m like anybody else. I hide. My wife was right. I’m inquisitive for the truth but hide from my own. The stuff I’ve carried with me and ignored."

Mittwoch, 1. September 2010

Mein weiser Narr

Im Februar 1986 erstand ich mir (zu der Zeit schrieb ich immer in die Bücher rein, wann ich sie gekauft hatte) Jacqueline C. Lairs und Walther H. Lechlers "Von mir aus nennt es Wahnsinn: Protokoll einer Heilung". Lair, die in Bozeman, Montana, lebt, hatte Alkoholprobleme und war medikamentenabhängig und suchte Hilfe beim Mediziner Walther H. Lechler in Bad Herrenalb im Schwarzwald. "Ich kann einfach keinen Grund sehen, weshalb ich lebe", schreibt sie und lernt bei Lechler, "dass man alles über Bord werfen muss, um das zu finden, was man braucht." Es ist ein Buch, das zu meinen intensivsten Leseerfahrungen überhaupt gehört.

Im Santiago Verlag sind nun unter dem Titel "Mein weiser Narr" Lairs "Nachgedanken an eine Therapie" erschienen. Es ist ein gelungener Text, weil er einen zum Nachdenken über Dinge bringt, die man in der Regel einfach zur Seite schiebt. Über Wut, zum Beispiel, die es, so der weise Narr Lechler, zu akzeptieren gilt: "... nimm einfach diese gewaltige Energie wahr, die sie auslöst ... man muss lernen, diese Energie und die innere Unruhe, die sie mit sich bringt, auf konstruktive Art und Weise auszudrücken, das ist alles."

Das Aussergewöhnliche an diesem Buches liegt darin, dass man erfährt, wie Lechler zu seinen Einsichten und Überzeugungen gekommen ist: er erzählt von Privatem und Schwierigem und lässt damit den Leser an seinem Leben teilhaben. "Ich war wütend auf das Leben, auf viele Menschen und überhaupt auf diese ganzen Lebensumstände. Ich war wütend, dass ich überhaupt geboren worden bin und deshalb eines Tages sterben muss. Ich fand das einfach unfair! Ich war auch wütend, weil meine Mutter so früh starb, also ich noch so klein war ... Auch heutzutage bin ich immer noch auf mich selbst wütend, wenn ich an alle die Versuche denke, meine innere Wut zu verleugnen und zu verdrängen, nur weil ich soviel Angst vor dieser Wut hatte ...".
Schon mal von einem Arzt oder Therapeuten derart Persönliches gehört? Ich nicht. Doch wozu soll das gut sein? Weil viele Alkoholiker und Drogenabhängige erst dann bereit sind, zuzuhören, wenn sie merken, dass da einer weiss, wovon er spricht. Aus eigener Erfahrung, nicht nur aus Büchern. Das meint nicht, dass man Alkoholiker sein muss, um Alkoholikern helfen zu können (Veterinäre wären sonst arbeitslos), das meint, dass Klienten/Patienten spüren müssen, dass emotionale Identifikation (einer der Schlüssel für eine Genesung) möglich ist.

"Den Weg über die Wiederentdeckung der Gefühle hielt sie (Jaqueline Lair) für zu einfach, für zu simpel, zu närrisch", liest man auf dem Schutzumschlag. In Gesprächen mit Lechler erfährt sie dann, dass dieser dem Intellekt, der meist als Instrument des Rationalisierens eingesetzt wird, skeptisch gegenüber steht: "... mehr als alles andere habe ich gelernt, intellektuellem Wissen, das gleichzeitig gefühllos ist, zu misstrauen", denn "all' dieses Verstehen und all' dieses Wissen haben mir nie meinen eigenen emotionellen Schmerz genommen. Die einzige Hilfe für mich war, diese verdammte, negative Art und Weise zu verändern, wie ich über mich selbst dachte. Und selbst das war nicht die ganz grosse Hilfe, wenn ich ehrlich sein soll. Was mir noch am ehesten geholfen hat, mich wohl zu fühlen, ist das simple Akzeptieren aller Höhen und Tiefen, die mein Leben so mit sich gebracht hat. Ich bin wie das Wetter da draussen, wie die Natur. Ich gehe durch meine Jahreszeiten und wenn ich einfach akzeptiere, welche Jahreszeit da gerade auf meinem Herzen liegt, dann kann ich mich damit abfinden und mich damit arrangieren. Ich musste lernen, den Versuch aufzugeben, aus einem grauen Wintertag ein Sommererlebnis zu machen - und zulassen und aushalten lernen, dass das manchmal wehtut."
Ich finde dies eine ganz wunderbare und hilfreiche Maxime, nicht nur für Alkoholiker, Drogenabhängie oder Depressive, sondern so recht eigentlich für alle.

Akzeptieren ist das Eine, Handeln das Andere und im Gegensatz zu den Therapien, die auf eine Verhaltensänderung durch Einsicht hoffen, schlägt Lechler den klassischen 12-Schritte-Grundsatz vor, dass richtiges Handeln zum richtigen Denken führen wird: "Du musst lernen, 'so zu tun als ob' - so zu tun, als ob du bereits wüsstest, wie man ein liebevolles Leben lebt, selbst, wenn du noch gar nicht daran glaubst. Denn irgendwann wird dieses Verhalten ein Teil von dir und dann kannst du wieder in vollem Umfang zu deinem Nutzen an der menschlichen Gemeinschaft teilhaben." Auch wenn ich vorbehaltslos zustimme, sprachlich (es handelt sich um eine Übersetzung) ist das schon ziemlich hölzern.

Was es auch noch braucht, um zu gesunden? Den Mut aufzubringen, gegen unsere Hauptsorge "Was sollen denn die Leute denken?" anzugehen. In Lechlers Worten: "Diese Spielregel hat mehr Menschen in einen Tiefschlaf versetzt und mehr Beziehungen ruiniert, als jede andere, die ich kenne."

Übrigens: "Von mir aus nennt es Wahnsinn" ist ebenfalls beim Santiago Verlag erhältlich.

Santiago Verlag
Joachim Duderstadt e.K.
Asperheide 88
D-47574 Goch
http://santiagoverlag.de