Würde ich auf meinen Bauch hören, würde ich Bauchentscheidungen nicht lesen. Wenn mich nämlich der Klappentext informiert, dass der Autor ein weltweit renommierter Psychologe ist und das Gottlieb Duttweiler Institut ihn „als einen der 100 einflussreichsten Denker der Welt“ bezeichnet habe, sagt mir meine Intuition, dass wer mit solch eitlen Zuschreibungen hausieren geht, in einer Welt lebt, die mich nicht interessiert. Wer, um Himmels Willen, glaubt bloss, was ein paar Institutsangestellte in Rüschlikon (wo das Gottlieb Duttweiler Institut seinen Sitz hat) behaupten?
Soviel zu meinen Voreingenommenheiten. Doch wovon sind diese beeinflusst? Von meinen Ahnungen oder Überlegungen, von meinem bewussten oder unbewussten Denken? Ja, gibt es überhaupt unbewusstes Denken? Ich erhoffe mir von Bauchentscheidungen Aufklärung. Und bin gleichzeitig skeptisch, denn es liegt doch so recht eigentlich schon im Begriff des Unbewussten, dass man darüber – weil nicht bewusst – kaum etwas empirisch Belegbares aussagen kann.
Wie immer bei Akademikern, beginnt es mit der Eingrenzung des Themas bzw. der Begriffsklärung. „Intuition ist unbewusste Intelligenz, die – unabhängig vom Geschlecht – auf jahrelanger Erfahrung beruht. Man spürt sofort, was man tun soll, kann es aber nicht begründen.“ Das kennen wir alle; was es allerdings mit Intelligenz zu tun haben soll, ist mir schleierhaft. Und auch was es mit Erfahrung zu tun haben soll, erschliesst sich mir nicht – ich kenne jedenfalls Menschen jeden Alters mit aussergewöhnlich ausgeprägtem Gespür.
Gerd Gigerenzer verwendet „die Begriffe Bauchgefühl, Intuition und Ahnung austauschbar, um ein Urteil zu bezeichnen, 1. das rasch im Bewusstsein auftaucht, 2. dessen tiefere Gründe uns nicht ganz bewusst sind, 3. das stark genug ist, um danach zu handeln.“ Insbesondere Punkt 3 finde ich einigermassen problematisch. Anders gesagt: Ich bin froh, dass ich meiner Intuition nicht immer nachgebe, denn allzu oft hat sie mich nachweislich in die Irre geführt. Doch Professor Gigerenzer plädiert keineswegs für das Primat der Intuition; er weiss sehr wohl, dass Kopf und Bauch zusammengehören und die Welt für allzu simple Wahrheiten zu kompliziert ist. Ihm geht es darum, der Intuition die ihr gebührende Achtung entgegenzubringen, ihren Wert und ihre Bedeutung anzuerkennen, denn „ohne sie brächten wir wenig zustande.“
„Wir bewegen uns immer mehr weg von einer Leistungskultur und hin zu einer Rechtfertigungskultur. Eine Bauchentscheidung kann man nicht mit harten Fakten begründen und wird damit angreifbar. Doch mit einer Rechtfertigungskultur erstickt man Innovation in einer Flut von Dokumentation, um sich abzusichern statt etwas zu riskieren.“ Ich sehe das genauso, jedenfalls von der Tendenz her. Wenn ich mir jedoch den bekanntesten Bauchgefühl-Vertreter der letzten Jahre vor Augen führe, den Florida-Golfer, dann weiss ich auch, weshalb die Orientierung an Fakten wesentlich ist. Auch beim Fliegen, so haben mich Piloten instruiert, ist man schlecht beraten, sich auf seinen Bauch statt auf die Instrumente zu verlassen.
Bauchgefühle bestehen gemäss Gerd Gigerenzer aus einfachen Faustregeln, die sich evolvierte Fähigkeiten des Gehirns zunutze machen. Das Ziel des vorliegenden Buches ist es, „zunächst die verborgenen Faustregeln zu erläutern, die der Intuition zugrunde liegen, und an zweiter Stelle zu verstehen, wann Intuitionen zum Erfolg oder zum Scheitern führen können.“
Bauchentscheidungen ist reich an aufschlussreichen Fallbeispielen und illustrativen Geschichten, die sich zumeist spannend und amüsant lesen. Ganz speziell zugesagt hat mir Das Keine-Wahl-Dinner. Dann aber auch die Geschichte über Ungewissheit, die aufzeigt, dass bei der Zukunftsvorhersage Laien, Experten und Politiker gleich schlecht abschneiden (Überrascht das jemanden?) sowie die Geschichte über den Fall der Berliner Mauer. Bei allen drei (und auch bei anderen) war mir nicht immer klar, was sie mit Bauchentscheidungen zu tun haben. Eher unterstreichen sie des Autors Lieblingsthese: Zuviel Information überfordert uns; je weniger wir wissen, desto leichter gelingt die Entscheidungsfindung. Verwunderlich finde ich das nicht, über die Qualität des Entscheids sagt dies allerdings wenig aus.
Zu den Schlüsselsätzen in diesem Werk gehört für mich: „Ich denke, die meisten sozialen Interaktionen sind weniger das Ergebnis komplexer Kalkulationen als vielmehr das Resultat besonderer Bauchgefühle, die ich soziale Instinkte nenne.“ Woraus sich ableiten liesse, dass das Bild, das wir von uns Menschen – von der Vernunft geleitete Wesen – haben, weitestgehend auf einer Fehleinschätzung beruht. „Es irrt der Mensch, solang‘ er strebt“, meinte bekanntlich Goethe. Schön zeigt das Professor Gigerenzer am angeblich alles dominierenden Egoismus auf, den er mit dem Familien- und dem Stammesinstinkt ergänzt.
Der Autor beklagt, dass „die Intuition von göttlicher Gewissheit zum blossen Gefühl abgestiegen“ sei. Das mag bei den sogenannt Gebildeten so sein, in der breiten Bevölkerung ist das meiner Erfahrung nach nicht der Fall. Dazu kommt, dass wir weit mehr von Gefühlen, Impulsen, Instinkten regiert werden als uns lieb ist. Nur geben wir uns das nicht zu, wollen wir mehr als bloss Tiere sein. Hochmut kommt vor dem Fall, heisst es bekanntlich. Und im Falle unserer Zivilisation paart sich dieser Hochmut gerade mit Ignoranz – und fährt uns an die Wand.
Bauchentscheidungen ist eine Horizont-erweiternde Lektüre und lohnt vor allem der vielfältigen Beispiele wegen, von denen viele aus des Professors abwechslungsreichem Berufsleben stammen.