Mittwoch, 15. Juli 2020

Ein Arzt als Patient

Der 1965 geborene Neurologe Klaus Scheidtmann wird durch seinen eigenen Hirntumor zum Patienten. In Seitenwechsel schreibt er mit grosser Offenheit von seinen Erfahrungen.

Als er nach einem Sturz vom Fahrrad anfängt 'komische Dinge' wie Impulsivkäufe zu machen und übertrieben Sport zu treiben sowie mit Sprachproblemen zu kämpfen hat, denkt er nicht an einen Hirntumor. Kann ein Neurologe sich denn nicht selber einschätzen? Natürlich nicht, denn ein Hirntumor hat unter anderem eine Wahrnehmungsverzerrung zur Folge und das meint: Der Bezug zu sich selber ist gestört, die Arbeit in der Klinik davon jedoch (verblüffenderweise) nicht beeinträchtigt.

Sein Tumor wird operativ entfernt, das Drumherum dieses Vorgangs schildert der Autor nüchtern und eindrücklich. Da ich mich selber einmal einer mehrstündigen Hirnoperation unterzogen habe (mein Facialis Nerv war beschädigt), riefen mir diese Sätze mein eigenes Aufwachen auf der Intensivstation nach der sechsstündigen Operation in Erinnerung, mit einem zuerst aufgeregten, dann, als ich mich deutlich artikulieren konnte, sichtlich erleichterten Oberarzt an meiner Seite. "So vieles konnte schiefgehen  bei einer Operation am Gehirn. Ich hätte als sabbernder Idiot aufwachen können."

Klaus Scheidtmann spricht auch die finanzielle Seite seiner Lage an, berichtet davon, wie Kollegen und ehemalige Patienten reagierten und beklagt, dass sich niemand um die Angehörigen kümmert. Halt findet er im Glauben. "Es war mir ein grosses Bedürfnis, Gott dafür zu danken, dass ich noch lebte und dass ich noch da sein durfte."

Was ihm auch hilft, ist die buddhistische Zen-Meditation. Es sind solche "Informationen am Rande", die mir meist von einer Lektüre bleiben (auch natürlich, weil Zen mich schon lange begleitet). Und  dass er die Nacht vor der zweiten Operation nicht mehr aufhören konnte in "Das Herzenhören" von Jan-Philipp Sendker zu lesen (ein Buch, das bei mir schon lange ungelesen im Regal steht ... und ich jetzt hervorgeholt habe).

In der Medizin geht es hierarchisch zu und her. Dass ihre Befunde und Entscheide kritisch befragt werden, sind Mediziner, im Gegensatz zu den Wissenschaftlern, nicht gewohnt. Und so verstecken sie sich zumeist hinter der Maske der Autorität, die nicht immer sachlich gegeben ist. Doch ist das ja nicht nur bei Ärzten so.

Der Untertitel "Ein Arzt als Patient" weist darauf hin, dass es auch um das Arzt-Patient-Verhältnis geht. Wie wird der Arzt, der zum Patienten geworden ist, von seinen Kollegen behandelt? Selten auf Augenhöhe, so die Erfahrung von Klaus Scheidtmann, der daraus lernt: "Behandle deine Patienten immer so, wie du von deinen Kollegen behandelt werden möchtest."

Was überdies ganz unbedingt für dieses Buch spricht ist das Nachwort der Ehefrau des Autors, die ihre Sicht der Dinge schildert, so dass man miterleben darf, dass es nie nur die eine Geschichte gibt. Hut ab für diesen Mut zur Aufrichtigkeit!

Fazit: Unprätentiöse und hilfreiche Aufklärung.

Klaus Scheidtmann
Seitenwechsel
Ein Arzt als Patient
Klöpfer.Narr, Tübingen 2020

Mittwoch, 1. Juli 2020

Be Angry!

Die Aufforderung, wütend zu sein, verbindet man eigentlich nicht mit dem Dalai Lama, den man eher mit Sanftmut in Verbindung bringt. Doch sein Be Angry! meint nicht, mit Schaum vor dem Mund auf alles einzuschlagen, das einem vermeintlich im Weg steht, sondern wie der Untertitel dieses Buches erläutert: "Die Kraft der Wut kreativ nutzen."

Wir Menschen sind meist im Entweder/Oder-Modus unterwegs und versuchen Widerstände zu beseitigen, bevor wir überhaupt erkannt haben, wie die Dinge sich verhalten. Und so hilfreich die Unterteilung in Gut/Schlecht und Schwarz/Weiss auch oft ist, wir sind gut beraten, zuerst einmal genau hinzuschauen.

Ebenso verhält es sich mit der Wut, die zuallererst nichts anderes ist als Energie. Wie diese genutzt wird, hängt von der Motivation ab, die bereits in uns angelegt ist. "Der in der Wut zum Ausdruck gebrachte Hass führt zu destruktivem Verhalten. Das in der Wut ausgedrückte Mitgefühl führt zu positiver Veränderung."

Be Angry! beruht auf einem Gespräch, das der japanische Autor, Dozent und Kulturanthropologe Noriyuki Ueda mit dem Dalai Lama führte. Dabei kam auch zur Sprache, dass unter den Buddhisten die Akzente ganz verschieden gesetzt werden. "Im Zen-Buddhismus zum Beispiel besteht das Ziel darin, die verbale Logik zu transzendieren." In der Praxis wird stattdessen oft einfach das eigene Handeln gerechtfertigt.

Dieses  Buch ist eine Auseinandersetzung mit Grundsätzlichem. "Im Buddhismus liegt der wahre Sinn des 'Mittleren Wegs' darin, sich dynamisch zwischen den Extremen zu bewegen und beide kennenzulernen." Also nicht in der Mitte zu sitzen, nichts zu tun und sich von nichts berühren zu lassen. Denn: Sich von Bindungen zu lösen, bedeutet nicht, gleichgültig zu werden. "Schlechte Bindungen sollten überwunden, gute Bindungen hingegen beibehalten werden, während wir unablässig danach streben, uns selbst zu verbessern."

Be Angry! plädiert für eine grundlegende Veränderung des Bildungssytems, das nicht lehrt, worauf es wirklich ankommt. "Hat einer noch so viele Lehren vernommen und sein Herz ist unruhig, dann hat er sie nicht praktiziert."

Dalai Lama
Be Angry!
Die Kraft der Wut kreativ nutzen
Allegria, Berlin 2020