Mittwoch, 3. Juli 2019

Von der Kunst, Dinge zu sehen

Zwei Essays versammelt dieser Band des 1837 als siebtes von zehn Kindern auf einer Meierei in den Catskill Mountains bei Roxbury in Delaware County (New York) geborenen John Burroughs: Von der Kunst, die Dinge zu sehen sowie Von der Heiterkeit der Landstrasse.

Natürlich ist genaues Beobachten wichtig, doch es genügt nicht. Bei der Kunst, die Dinge richtig zu sehen, geht es deswegen nicht einfach darum, aufmerksam durch die Welt zu gehen, sondern auch darum, dass dies auf der Grundlage der Liebe geschieht, denn: "Die Liebe ist das Mass des Lebens." 

Es geht John Burroughs nicht allein ums Sehen, sondern um die richtige Wahrnehmung. Ihm schwebt ein Mensch vor, der voll und ganz präsent ist. "Er begegnet allen äusseren Eindrücken mit lebendiger Aufmerksamkeit." Und: "Er ist so feinfühlig, dass er bei seinem Abendspaziergang die lauen und kühlen Lüfte in der Luft spürt, seine Nase die flüchtigsten Düfte und seine Ohren die verborgensten Geräusche wahrnehmen." 

Die Beobachtungsgabe kann geübt, die Aufmerksamkeit trainiert werden. Wem es ums wirkliche Sehen zu tun ist, wird lernen, seine Sinne auf die Welt zu richten. "Wenn man mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt ist, dann geht man womöglich durch ein Museum mit Kuriositäten und betrachtet gar nichts."

Die Dinge langsam angehen, innehalten, verweilen – John Burroughs zeigt an ganz vielen Beispielen aus seiner Naturbeobachtung, was er dabei alles entdeckt. Von der Kunst, die Dinge zu sehen ist so recht eigentlich ein wunderbarer Essay über die Achtsamkeit, die es schon gab, bevor der Begriff in Mode gekommen ist.

Dem zweiten Essay in diesem schmucken Bändchen, Von der Heiterkeit der Landstrasse, ist ein Walt Whitman-Zitat vorangestellt, das den Geist dieses Textes treffend charakterisiert: "Zu Fuss und leichten Herzens finde ich Gefallen an der freîen Landstrasse." Er zitiert auch Shakespeare, nach dem die wichtigste Voraussetzung für den Gehenden ein frohes Herz sei.

Auch über die Unterschiede der Amerikaner und der Engländer als Fussgänger lässt er sich eingehend aus; er ist überzeugt, dass das Gehen den wahren Charakter des Menschen zum Vorschein bringt.

Aus dem Nachwort von Klaus Bonn erfahre ich, dass John Burroughs "zwischen  den Jahren 1870 und 1920 der berühmteste und vor allem populärste Nature Writer in den USA" gewesen ist. Gut 1,5 Millionen seiner Bücher waren bei seinem Tod im Jahre 1921 gedruckt worden – eine immense Zahl generell und für die damalige Zeit ganz besonders. Henry James schrieb einmal, Burroughs sei "eine Art reduzierter, aber auch humorvollerer, zugänglicherer und umgänglicherer Thoreau." Wahrlich Grund genug, ihn zu lesen!

John Burroughs
Von der Kunst, Dinge zu sehen
Essays
Limbus Verlag, Innsbruck - Wien 2019

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