"Die dunklen Seiten der Depressions" lautet Andrew Solomons Saturns Schatten im Untertitel, das von John Berger als "das ungewöhnliche Zeugnis eines Leidens – Aufrichtigkeit gepaart mit Aufklärung" charakterisiert wurde. Als Motto ist dem Buch dieses Zitat von Michael Bulgakov (aus: "Die weisse Garde") vorangestellt: "Alles wird vorübergehen: Leiden, Qualen, Hunger, Blut und Massensterben. Das Schwert wird verschwinden, aber die Sterne werden auch dann noch da sein, wenn von unseren Leibern und Taten auf Erden kein Schatten mehr übrig ist. Die Sterne aber werden immer so da sein, schön und flimmerig. Es gibt keinen Menschen, der das nicht wüsste. Warum also wollen wir unseren Blick nicht zu den Sternen erheben? Warum?"
Dieses Buch, so der Dozent für Psychiatrie an der Cornell University, der, wie er betont, weder Arzt noch Psychologe und auch nicht Philosoph ist, handle in erster Linie vom Lebenskampf schwer geprüfter Männer und Frauen, die ihm ihre Lebensgeschichten erzählt hatten. "Ich möchte einen Beitrag zur Aufklärung von Ärzten und Patienten leisten, damit es ihnen gelingt, die Qualen der Depression zu überwinden."
Saturns Schatten ist ein höchst aufschlussreiches Werk, entstanden aus persönlicher Betroffenheit, das unter anderem klar macht, dass die Depression in einem inneren Zusammenhang mit dem Charakter steht. "Einige Menschen bringen es trotz entsetzlicher Symptome im Leben zu etwas, andere sind schon bei den leichtesten Anflügen der Krankheit völlig am Boden zerstört."
Solomon holt weit aus und bemerkt etwa zum Aufstieg des Supermodels, dass dieses das Selbstbild der Frau beschädigte, indem es unrealistische Erwartungen begründete, und er zitiert unter anderen Schopenhauer mit den Worten: "Unsere Empfindlichkeit für den Schmerz ist fast unendlich, die für den Genuss hat enge Grenzen." Das meint, "dass wir in der Regel, die Freuden weit unter, die Schmerzen weit über unserer Erwartung finden .... Sogar bedarf Jeder allzeit eines gewissen Quantums Sorge, oder Schmerz oder Noth, wie das Schiff des Ballasts, um fest und gerade zu gehen." Wie sagt doch die russische Redensart: Wenn du aufwachst und keine Schmerzen hast, weisst du, dass du tot bist.
Von allen möglichen Seiten beleuchtet Solomon die Depression, geht auf Therapien, Historisches, Armut, Politik und Evolution ein. Und auch auf die Sucht, bei der er auf interessante Untersuchungen hinweist. "Von allen, die je eine Zigarette rauchen, werden ein Drittel in der Folge nikotinsüchtig, bei Heroin sind es etwa ein Viertel, beim Alkohol rund ein Sechstel." Doch weshalb hat Nikotin im Vergleich zu Alkohol ein derart hohe Suchtwirkung? Weil die negativen Aspekte des Nikotrin-Genusses relativ spät auftauchen und der furchtbare Kater am anderen Morgen den Alkoholkonsum in gewissen Grenzen hält.
Saturns Schatten überzeugt nicht zuletzt der eindrücklichen Geschichten wegen. Etwa diese hier. "Wenn Elefanten in Nepal einen Splitter oder Dorn im Fuss haben, kippen die Treiber ihnen Chili ins Auge, worauf sie so sehr mit der brennenden Bindehaut beschäftigt sind, dass man den Dorn entfernen kann, ohne totgetrampelt zu werden. (Der Pfeffer ist schnell wieder ausgeschwemmt). Bei vielen Melancholikern erfüllt Alkohol, Kokain oder Heroin die gleiche Funktion wie das Chili, nämlich als etwas Unerträgliches, dessen Scheusslichkeit von der noch unerträglicheren Depression ablenkt."
Höchst Aufschlussreiches erfährt man auch im Kapitel über Therapien, worin Solomon auch seine völlig absurd anmutende Odyssee auf der Suche nach einem Therapeuten beschreibt. Was macht einen guten Therapeuten aus? "Die guten Psychiater liessen den Patienten erst über sich berichten und stellten dann sofort eine Reihe von ganz gezielten Fragen, um bestimmte Informationen zu erhalten." Zudem: "Jemand, mit dem du dich tief verbunden fühlst, kann dir wahrscheinlich schon durch lockeres Plaudern sehr helfen, und wenn diese Voraussetzung fehlt, können die ausgefeilteste Technik und die beste Qualifikation wenig ausrichten."
Saturns Schatten ist ein sehr gut geschriebenes und enorm hilfreiches Buch.
Andrew Solomon
Saturns Schatten
Die dunklen Welten der Depression
FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main, April 2019