Obwohl ich selber zu denen gehöre, die, wenn sie Deutsch sprechen, immer mal wieder einen englischen Ausdruck benutzen, finde ich die gegenwärtig grassierende Mode, deutschen Büchern englische Titel zu geben, mehr als nur daneben und besonders dann, wenn die englische Originalausgabe (wie im vorliegenden Fall) ganz anders lautet. Konkret: Der deutsche Titel heisst Into Madness, das englische Original Let Me Not Be Mad. Schon ziemlich "mad", das Ganze.
Das erste der drei Zitate, die dem Buch vorangestellt sind, verdeutlicht sehr gut, warum es in diesem Buch geht. "Ein Arzt, der den höchsten Grad der Empathie erreicht, würde zum Patienten werden: Die beiden Perspektiven würden verschmelzen." (Valerie Ugazio).
A.K. Benjamin ist kein Arzt, sondern klinischer Neuropsychologe, der über zehn Jahre in einem grossen Londoner Krankenhaus arbeitete und heute in Indien lebt, wo er eine Klinik für Kinder mit neurologischen Störungen aufgebaut hat.
Das vorliegende Buch ist eine Sammlung von Fallgeschichten von Menschen, die vor dem Zusammenbruch stehen. Gleichzeitig ist es die Geschichte des Autors selbst und die Aufklärung über die Art und Weise wie Ärzte und Psychologen arbeiten, ist einer der wesentlichen Gründe, weshalb dies ein ausgesprochen hilfreiches Werk ist. "Auch in unserem Beruf gilt: Nur was gemessen wird, wird auch angegangen."
"Wenn ein Mediziner versucht, eine Fallstudie zu verfassen, kann er genauso gut alles erfinden, so wenig hat sie mit dem zu tun, was wirklich im Untersuchungsraum vor sich geht. Wenn man, wie Philip Roth glaubt, sich in jemandem täuscht, bevor man ihn getroffen hat, sich wieder in ihm täuscht, wenn man ihn getroffen hat, und sich abermals in ihm täuscht, wenn man über das Treffen nachdenkt, dann kann man beim Schreiben praktisch bei null anfangen."
A.K. Benjamin erzählt von Trafo, einem bald zehnjährigen Buben, der Schmerzen nicht ausstehen kann und dessen Eltern seine Hilfe suchen. Den Buben selber kriegt er nie zu Gesicht, da dieser sich weigert, seine Eltern zu begleiten. Und er berichtet von Lucy, die fälschlicherweise mit Demenz diagnostiziert worden war – was ihn an seine eigene Fehldiagnose, die er als Jugendlicher erhalten hatte, erinnerte. "Das Etikett – so falsch es auch war – verfolgte mich, warf einen Schatten auf Gefühle und Verhaltensweisen, die für sich genommen völlig harmlos waren. Und eine weitere Dimension der selbsterfüllenden, bösartigen Energie, die solche (Fehl-))Diagnosen mit sich bringen: Ich glaubte, alle um mich herum würden mich ebenso sehen. Als hätte man mich einmal mehr abgehakt."
Und er erzählt noch von ganz vielen mehr Zum Beispiel von Michael und den Folgen seiner dramatischen Hirnverletzung, von Jane, deren Vater ihre Epilepsie peinlich war und auch von sich, seinen Überlegungen, Fragen und Zweifeln. "Ich spüre einen Druck auf der Brust. Neunzig Prozent der klinischen Psychologen – auch die Männer – sind weisse Mittelschichtfrauen. Manchmal fühlte ich mich entmannt. Auf der anderen Seite: Ärzte, Manager, Buchhalter; hyperbeschäftigte Kerle, die einem nicht in die Augen sehen können. Manchmal fühlte ich mich entweiblicht. Das war weit von dem entfernt, was ich mir erhofft hatte, als Lotte mir vor all den Jahren den Gedanken ins Hirn gepflanzt hatte."
Was Into Madness verdienstvollerweise klar macht, ist, dass wir alle im selben Boot sitzen, die Trennung von aussen und innen, gesund und krank, eine nicht nur willkürliche, sondern so recht eigentlich unmögliche ist. "Es gibt keinen Blick von aussen, keine Perspektive der dritten Person, nur "du" und "ich", sodass wir unsicher sind und uns auf gut Glück vorantasten."
Into Madness ist ein zutiefst aufwühlendes Buch, das lange nachhallt. Und ich bin froh drum. Nicht zuletzt, weil es eine so wesentliche Einsicht wie diese formuliert: "Das eigentliche Problem daran, sich verändern zu wollen, ist in Wirklichkeit, nicht man selbst sein zu wollen – wenn man sich denn überhaupt verändern oder irgendetwas tun kann."
Ein grossartiges, ein wichtiges Buch!
A.K. Benjamin
Into Madness
Geschichten vom Verrücktwerden
Ullstein Extra, Berlin 2019
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