"Wenn ich noch einmal leben dürfte, würde ich mir angewöhnen, jeden Abend über den Tod nachzudenken. Ich würde mir den Tod sozusagen in Erinnerung rufen. Keine andere Übung lässt einen das Leben intensiver spüren. Wenn der Tod naht, sollte er einen nicht mehr überraschen. Er sollte Teil dessen sein, was man vom Leben erwartet. Ohne das ständige Bewusstsein vom Tod ist das Leben fade. Es ist wie ein Ei ohne Eigelb", schrieb die damals 41jährige Muriel Spark in Memento Mori.
Zu diesen Sätzen springen meine Gedanken, als ich die Einleitung zu Luise Reddemanns Schlussstücke. Gedanken über Vergänglichkeit und Tod lese. Nein, Muriel Spark wird darin nicht erwähnt und warum mein Gehirn einen Bezug zu Frau Prof. Reddemanns Text herstellt, weiss ich nicht wirklich, da könnte ich nur raten und das mag ich gerade nicht. Doch soviel soll sein: Für mich bedeutet die Beschäftigung mit dem Tod eine Auseinandersetzung mit dem Leben, meinem Leben, denn ein anderes kenne ich nicht.
Seit mindestens 50 Jahren, schreibt die Autorin, begleite sie Prediger 3: Ein jegliches hat seine Zeit. Und sie fügt hinzu: "Und er bedeutet mir immer wieder Unterschiedliches." Da mich dieser Text auch schon seit langem begleitet und mir auch immer wieder Neues und Anderes bedeutet, haben die Schlussstücke. Gedanken über Vergänglichkeit und Tod bereits meine Sympathie. Doch nicht nur deswegen – die Suche nach Identifikation ist nur einer unter vielen (und mir grösstenteils wohl gar nicht bewussten) Gründen, weshalb ich Bücher lese – , sondern auch, weil Luise Reddemanns Ausführungen anregend (sofort will ich mir die schon lange im Regal stehende, noch nicht gelesene Beethoven-Biografie vornehmen) und horizonterweiternd sind.
Das Thema Vergänglichkeit und Tod habe viel mit dem Herzen zu tun, doch ein wenig Vernunft könne dabei nicht schaden, notiert sie. Beide sind dem Menschen eigen genauso wie die Trauer und das Lachen. Akzeptanz ist der Schlüssel, finde ich. "Und selbst wenn wir nicht mehr gläubig sind wie Bach, können wir anerkennen, dass 'das Leben' grösser ist als wir selbst. Dieser Gedanke leitet mich", so Luise Reddemann und weist, unter Bezugnahme auf Hildegard von Bingen, darauf hin, wie uns das Betrachten der Natur zum Lebenlernen führen kann.
Johann Sebastian Bach, für den Dankbarkeit von grosser Bedeutung war, nimmt einen wesentlichen Teil dieses Buches ein. Bachs Dankbarkeit ist angesichts seines eigenen Leids umso beeindruckender. Und natürlich hole ich meine Bach-CDs hervor, nicht nur Goulds Goldberg Variationen, die mich schon lange begleiten, sondern auch die schon ewig nicht mehr gehörte Johannes Passion (ich höre nur auf die Musik, nicht auf den Text), die ich jetzt mit nochmals anderen Ohren höre.
Luise Reddemann nimmt auf ganz unterschiedliche, aus verschiedenen Jahrhunderten stammende Autoren und Gedanken Bezug – von Viktor Frankl über Kurt Marti zu Andreas Gryphius, von der Bibel über den Buddhismus zur Psychotherapie – , die letztlich alle zum Ziel haben, sich mit dem Leben einverstanden zu fühlen. "Wer dem Leben als Ganzem vetraut, kann sich aufgehoben fühlen, selbst wenn es manchmal zum Verzweifeln ist."
Doch Schlussstücke beschränkt sich nicht auf das Hinführen zu wesentlichen Gedanken, sondern geht darüber hinaus, indem es die persönliche und einfühlsame Lesart (und Hörkunst – es geht viel um Musik) der Autorin vorstellt. So erläutert sie unter anderem, höchst differenziert und anschaulich, was sie selber unter Resignation, Akzeptanz und Empathie versteht. Hier nur soviel: Es ist etwas anderes als üblicherweise damit verbunden wird.
Schlussstücke ist ein wunderbar hilfreiches Buch.
Luise Reddemann
Schlussstücke
Gedanken über Vergänglichkeit und Tod
Klett-Cotta, Stuttgart 2018